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Dienstag, 5. Juni 2012

Kenn ich schon...

Ein Professor wanderte weit in die Berge, um einen berühmten Zen-Mönch zu besuchen. Als der Professor ihn gefunden hatte, stellte er sich höflich vor, nannte alle seine akademischen Titel und bat um Belehrung. 
'Möchten Sie Tee?' fragte der Mönch. 
'Ja, gern', sagte der Professor. 
Der alte Mönch schenkte Tee ein. Die Tasse war voll, aber der Mönch schenkte weiter ein, bis der Tee überfloß und über den Tisch auf den Boden tropfte. 'Genug! rief der Professor. 'Sehen Sie nicht, daß die Tasse schon voll ist? Es geht nichts mehr hinein.'
Der Mönch antwortete: 'Genau wie diese Tasse sind auch Sie voll von Ihrem Wissen und Ihren Vorurteilen. Um Neues zu lernen, müssen Sie erst Ihre Tasse leeren.'


Vielleicht kennen Sie diese Geschichte schon, und wenn nicht, dann fragen Sie sich vielleicht, was sie in einem Blog über Fotografie zu suchen hat. Nun ja, mit dem Fotografieren(Lernen) ist es ganz ähnlich.


Ich unterrichte selbst, aber ich besuche trotzdem immer wieder Workshops und Fortbildungen. Manchmal werde ich danach gefragt, ob sich der Kurs (die Zeit, das Geld) für mich denn eigentlich gelohnt hätte. Natürlich antworte ich oft, dass ich das Meiste schon mal gehört habe. Trotzdem gibt es für mich immer etwas zu entdecken. Manchmal sind es Kleinigkeiten, aber wenn Sie wüssten, dass Sie in einem Kübel Sand ein Stück Gold finden werden, würden Sie nicht auch danach suchen?


Phasen des Lernens
Am Anfang, wenn man noch keine Ahnung von einer Sache hat, wird man beim Lesen oder in Kursen spektakulär viel Neues erfahren. Oft wird man dabei von einer Flut an neuem Wissen überschwemmt, ist überfordert und kann sich gar nicht alles merken. Die darauf folgende Phase des Halbwissens ist am produktivsten, weil man alles Neue sinnvoll in bereits vorhandene Wissensstrukturen einsortieren kann. Hier gibt es die größten Fortschritte. Danach kommt die dritte Phase, in der es mit dem Lernen schwieriger wird, weil man die ganzen inneren Wissens-Schubladen bereits vollgestopft hat. Es kommt zu einer Art "Tunnelblick".

Die dunkle Seite
Manch einer bleibt in dieser Phase in gut funktionierenden Routinen stecken, andere verlieren die Lust und wenden sich neuen Beschäftigungen zu. Wieder andere suchen händeringend nach Inspirationen, finden dabei aber scheinbar immer nur den gleichen alten Käse. Je nach Konstitution verfällt man darauf hin in Depressionen, oder man lebt seinen Frust durch bissige Kommentare aus. Die Tasse ist voll, aber ausleeren will man sie auch nicht. Es hat ja schließlich lange genug gedauert, und es war mühsam genug, sich auf den Status eines Fortgeschrittenen hoch zu arbeiten. Was nun?


Licht am Ende des Tunnels
Vielleicht gehören Sie zu den Menschen, die gerne Neues ausprobieren? Also nichts wie los: Beschäftigen Sie sich mit einem Thema oder einer Technik, die Sie noch nicht beherrschen. Sie haben schon alles durch? Sie wissen genau, was Ihnen gut tut, und bestimmte Sachen sind einfach nichts für Sie? Schuster, bleib bei deinen Leisten? Auch okay. Räumen Sie Ihre Schubladen auf, machen Sie eine grundlegende Bestandsaufnahme. Mal sehen, ob nicht doch noch irgendwo ein bisschen Platz frei wird. Je genauer Sie wissen, was fehlt, desto gezielter können Sie danach suchen.

Radikalkur - Zurück auf Null?
Im Zen-Buddhismus spricht man vom "Anfänger-Geist" (ShoShin, ShoJin). Diese Idealvorstellung, die übrigens auch ein Konzept für die asiatischen Kampfkünste ist, lässt sich auf alle Lebensbereiche übertragen.
Der unkundige Anfänger ist unvoreingenommen, er denkt und handelt noch völlig intuitiv. Dann kommt ein Lehrer oder ein Buch. Nun gibt es Regeln zu lernen und zu beachten, Wissen aufzunehmen, sich in Denksysteme zu fügen. Später wird man selbst zum Lehrer, schreibt vielleicht ein Buch und versucht für andere Regeln aufzustellen. Auf der nächsten Stufe wird dieses Korsett schließlich durch den Zen Anfänger-Geist wieder überwunden. Nun kann man wieder intuitiv und unvoreingenommen handeln und denken. Diese neue Stufe des Anfänger-DaSeins ist nicht zu verwechseln mit der des Unkundigen, denn das Wissen und die Erfahrung sind ja bereits vorhanden. Es geht in dieser Phase darum, neue Wege zu beschreiten.

Um diesen Anfängergeist in der Fotografie zu kultivieren, können Sie in eine Art Rollenspiel eintauchen, indem Sie sich sagen:
  • Ich tu jetzt mal so, als hätte ich das alles noch nie gehört/gelesen. 
  • Ich verhalte mich mal so, als hätte ich das noch nie gemacht. 
  • Alle bisherigen guten und schlechten Erfahrungen spielen erst mal keine Rolle, ich schaue einfach mal, was passiert. 
  • Ich beobachte die Entwicklung: Was ist anders als sonst? 
Wenn man sich ohne Erwartungen auf etwas einlassen kann, entdeckt man plötzlich Dinge, die man bisher übersehen, überlesen, überhört hat. Selbst das Alltägliche zeigt sich dann auf einmal von einer ganz neuen Seite.

Wenn Sie das nächste Mal denken "Kenn ich schon, kann ich schon, hab ich schon gemacht" wissen Sie, dass Ihre Wahrnehmungsfilter Sie gerade daran hindern, neue Erfahrungen zu machen.


Warum wir so verrückt nach neuen Kameras sind
Eine neue Kamera oder ein neues Objektiv zu benutzen, ist ein tolles Gefühl. Warum? Ganz einfach: Wir sind, anders als sonst, aufmerksam und offen für alle möglichen Kleinigkeiten, wir schauen genauer hin, weil wir etwas Neues erwarten. Es ist wie im Urlaub: Der Kick entsteht durch die intensive, prickelnde Erfahrung, er wird ausgelöst von Wachheit und Konzentration. Leider verliert sich das tolle Gefühl, sobald wieder Routine einkehrt. Eine Zeitlang funktioniert das neue Equipment dann noch als Statussymbol, aber auch nur so lange, bis jemand anderes was Neueres vorweisen kann. Wer seine Glückshormone dauerhaft auf einem hohen Level halten und von Neuanschaffungen abkoppeln möchte, hat jederzeit die Möglichkeit, die Software im Kopf zu aktualisieren.

Dafür hätte ich ein weiteres Rollenspielangebot: Nehmen Sie Ihre Kamera  zur Hand und benutzen Sie sie so, als wäre es das erste Mal. Entdecken Sie mindestens drei Funktionen, die Sie noch nie benutzt haben.
Machen Sie tolle Fotos - vor allem aber: genießen Sie jeden Augenblick.

Mehr über den Anfängergeist lesen

1 Kommentar:

  1. Da betrete ich ja schon Neuland... genau weiss ich nicht, was ein Blog ist und erst recht nicht, was er für ein Geschlecht hat.... bon, alors, er ist da.
    Und wer schreibt das, bitte? Jacqeline?
    Dein Artikel trifft ziemlich gut meine Gedanken. Seit einiger Zeit bin ich im NLP-Masterkurs, zuvor einiges gelernt in Psychologie. Da doppelt sich einiges für mich.... Dann sagte ich mir, irgendwas kannst du doch hier lernen.... tut es! Ob es allerdings so teuer sein muß?
    Und die Frage, warum mache ich das alles (mit 79)? Stelle ich mir schon länger nicht mehr.
    Lerne immer noch gerne mit'm Kopp - erfolgreicher ists mit dem Herzen. Dafür mußte mein Herz ganz schön alt werden.
    Lieben Dank sagt Manfred

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