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Freitag, 6. Dezember 2013

Tiefstes Mittelalter - München 2013

Wir schreiben das Jahr 2013. Dies ist das Abenteuer des Fotografen X., der mit seinen Bildern in Bayern unterwegs ist... Eigentlich wollte er nur eine Ausstellung machen, aber auf seiner Reise durch die Galerien ist ihm das echte Leben begegnet, die moderne Zivilisation. Viele Lichtjahre von der Erde entfernt, aber auch hier vor Ort wundert man sich über Ereignisse, die einem Fotografen im modernen München widerfahren können.

Was ist passiert? 

Mein Fotoclubkollege X. hat unlängst seine Fotos in einem Kulturzentrum im Münchner Osten ausgestellt. Die gleiche Ausstellung hatte er bereits mit großem Erfolg in Wiesbaden-Schierstein und in Wiesbaden direkt an der Staatskanzlei präsentiert, völlig ohne Probleme. Auch diesmal hatte er alle Bilder vorab vorgelegt, man wusste also, was da für die kommenden fünf Wochen in den Räumen des Kulturzentrums zu sehen sein würde. Auch die Verantwortlichen hatten keinerlei Bedenken. Mein Bekannter entrichtete die Gebühr von 200 EUR, um seine Ausstellung machen zu dürfen (!!), die Bilder wurden aufgehängt, die Vernissage fand statt. Bis hierhin alles wunderbar. Doch dann wurde es skandalös...

Dieses Bild dürfen wir leider nicht zeigen


Vier Tage vor Ende des Ausstellungszeitraums fand in diesem Kulturzentrum eine Sitzung der örtlichen Politiker statt. Ein Mitglied des Bezirksausschusses sah die beiden Fotos von, oh Gott, nackten Frauenbrüsten! Daraufhin wurde Fotograf X. aufgefordert, die Bilder unverzüglich aus der Ausstellung zu entfernen. Begründung: Mögliche Kenntnisnahme durch Kinder! Nebenbei bemerkt: Die beiden wahrlich harmlosen Aktfotos wurden nicht im Foyer gezeigt, sondern im ersten Stock, einem nicht unmittelbar einsehbaren Bereich der Ausstellungsräume.

Zugegeben: Man kann generell geteilter Meinung über den ästhetischen Wert von Kunstwerken sein. Man kann auch das Ausstellungskonzept hinterfragen, und sich darüber wundern, warum eine Gruppe von Aktfotografien mit Bildgruppen kombiniert wird, die aus grafisch/technisch orientierten Motiven bestehen. Aber weder das eine noch das andere rechtfertigt eine so drastische Maßnahme von Zensur.

Was die Sache wirklich zu einer Affäre macht, ist die Tatsache, dass der oder die Politiker/in, der das Abhängen der Bilder gefordert hat, nicht mal so viel Rückgrat hat, sich dem Fotografen gegenüber zu outen. Mein Kollege X. weiß bis heute nicht, welches BA-Mitglied die Fotos so anstößig fand, dass man sie Kindern nicht zumuten könne, und den Dialog mit dem Fotografen verweigert. Nur die Angabe, dass es sich um ein Mitglied der CSU handeln soll, wurde weitergegeben. Nackte Brüste nein, Feigheit ja? Darin sehe ich eine weitaus größere Gefahr für Kinder.

Wehret den Anfängen
Das Wort "Kinderschutz" ist heutzutage ein Killer-Argument vom Feinsten. Wer kann da schon widersprechen? Wer es doch tut, ist potenziell verdächtig, vielleicht sogar gefährlich oder krank? Sogar ich muss jetzt  aufpassen, welche Worte ich wähle, um nicht unter Verdacht zu geraten. Ein paar falsche Wörter und die Suchmaschine stuft dieses Blog anders ein? Dann lande ich womöglich im Fadenkreuz der Ermittler und muss mich erklären, warum ich Fotos, auf denen ein bisschen nackte Haut zu sehen ist, harmlos finde? Prüderie und Verklemmtheit sind wieder auf dem Vormarsch - vielleicht wäre es mal an der Zeit sich zu fragen, woher die Neurosen der Elterngeneration(en) kommen, die tagtäglich ahnungslos und unreflektiert auf die Kinder übertragen werden. Davor gibt es keinen Schutz. Verantwortungsbewusstsein zeigt sich meines Erachtens im Dialog über "jugendgefährdende Inhalte", nicht in Form von brachialer Zensur.  Wer Kinderschutz fordert, darf mit den Kleinen übrigens auch nicht in die Alte Pinakothek gehen, denn dort gibt es auf den Werken von Cranach, Rubens und Holbein d.Ä. Dinge zu sehen, die genauso zensiert werden müssten. Aber das sind natürlich "Alte Meister" und keine neumodischen Fotografen!

Wenn wir diese kleinen Warnsignale weiter ignorieren, dann blüht uns in ein paar Jahren die beste Zensur aller Zeiten: es ist die Zensur, die wir in vorauseilendem Gehorsam in unseren Köpfen ausüben. Wir werden also nur noch Fotoausstellungen von Blümchen und Bienchen machen, und Störche fotografieren, die in unserer malerischen Heimat nisten. Mütter können sich überlegen, ob sie ihren Kindern beim Stillen eine Augenbinde anlegen, sollten sich zu Hause nur hinter verschlossenen Türen an- und umziehen, und das sommerliche Isarufer weiträumig umfahren, damit das kindliche Gemüt nicht gefährdet wird. Das ist die Welt, in der ich immer leben wollte! Wer sich dazu einen tollen Film anschauen will, dem lege ich an dieser Stelle Pleasantville (Wikipedia) nahe.

Symptomatisch: Den Ball flach halten


Zurück zu unserem Ausstellungsskandal: Die Fotos mussten entfernt werden, und zwar so, dass niemand der Ausstellungsbesucher erfahren sollte, dass hier Zensur ausgeübt wurde. Es wäre zu peinlich gewesen, wenn ahnungslose Besucher des Kulturzentrums zwei mit schwarzen Tüchern verhängte Bilderrahmen vorgefunden hätten. Das hätte vermutlich mehr Interesse geweckt als die schändlichen Motive selbst. Geschwärzte Bilder hätte die Besucher dazu gebracht nachzudenken und nachzufragen. Unangenehm! Man hätte sich auseinandersetzen müssen. Totschweigen ist besser als Wirbel machen. Das dachte sich dann auch mein Kollege, der zunächst mit dem Zensur-Thema an die Presse gehen wollte. Aber wir sind alle nur Menschen: Kollege X. will auch in Zukunft Ausstellungen machen. Wer Wirbel macht, ist unbequem. Lässt man so jemanden anderswo noch ausstellen? Und so geht im Kleinen die Freiheit der Kunst, und somit ein Teil der freien Meinungsäußerung den Bach runter. Fotograf X. ist nicht Jonathan Meese (Wikipedia), schade irgendwie. Heutzutage sind Skandale ein probates Mittel, um als Künstler ins Gespräch zu kommen.

Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert?
Um nach diesem Motto handeln oder gar leben zu können, braucht man Mut, weil man nicht weiß, ob man auf der Welle, die man lostritt, reiten kann, oder in einem Shitstorm untergeht. Die meisten Fotografen, die ich kenne, wollen einfach nur ihre Bilder präsentieren. Ich verstehe, dass X. seine Karriere nicht unbedingt mit dem Label "der Fotograf, der in München zensiert wurde" krönen will. Er ist ein seriöser Künstler, kein Marktschreier, und es war nie seine Absicht, irgendjemanden zu provozieren. Dass seine Bilder trotzdem zum Stein des Anstoßes werden konnten, sollte aufgeklärten Menschen des 21. Jahrhunderts zu denken geben. 


Für alle, die es interessiert, gibt's hier noch eine Stellungnahme des Papstes zum Thema Nacktheit (Link leider nicht mehr verfügbar). Und wie gesagt: gehen Sie mal in die Pinakotheken und schauen Sie sich an, was da hängt.

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