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Mittwoch, 12. Oktober 2016

Mit der Kamera malen

Ich weiß nicht, ob die nachfolgende Geschichte wahr ist, oder ob sie von einem kreativen Schreiber zur Motivation erfunden wurde. Beim Surfen im Web stolperte ich vor ein paar Tagen über eine englische Version, und sie passt(e) gerade so gut zu unserem Exkursionsthema "Malerische Bilder". Bei eisigem Oktoberwind hatten die Kursteilnehmer die Aufgabe, mit ihren Kameras völlig anders umzugehen als sonst. Sie sollten lange Belichtungszeiten, Kamerabewegungen, Farben und Lichter für die eigenen Kompositionen einsetzen. Es sollte gerade nicht das typische, scharfe Bild entstehen, das man als Fotograf normalerweise anstrebt.















Ranga Guru war ein bekannter indischer Maler, der für seine Werke hoch angesehen war. Eines Tages ging sein Schüler Racici zu ihm. Er hatte seine Abschlussarbeit fertig gestellt und bat den Meister, sein Bild zu bewerten.

Ranga Guru sagte daraufhin: „Du bist jetzt selbst ein Meister. Nun ist es an der Zeit, dass die Menschen dein Bild bewerten. Hänge dein Bild an einem der belebtesten Plätze der Stadt auf, lege einen roten Stift daneben und schreibe ein Schild, mit dem du die Leute aufforderst, ihre Meinung kundzutun, und all die Stellen im Bild rot zu markieren, die ihnen nicht gefallen.“



Gesagt, getan. Ein paar Tage später ging Racici los, um sein Bild wieder abzuholen. Schwer enttäuscht musste er feststellen, dass es von roten Kreuzen übersät war. Sein Bild war bis zur Unkenntlichkeit mit roter Farbe vollgeschmiert. Racici wollte daraufhin alles hinschmeißen, doch Ranga Guru empfahl ihm weiterzumachen.

Der Meister trug seinem Schüler auf, das gleiche Bild noch einmal zu malen. Diesmal sollte er aber keinen roten Stift daneben stellen, sondern stattdessen Ölfarben und Pinsel. Auf einem Schild sollte er die Betrachter auffordern, die Stellen, die ihnen nicht gefielen, eigenhändig mit Pinsel und Farbe zu verbessern.

Als er einige Tage später nach seinem Bild schaute, war Racici hoch erfreut. Niemand hatte etwas verändert. Das Bild hing immer noch so da wie am Tag zuvor, niemand hatte Farben und Pinsel angerührt. Voller Stolz kehrte Racici zu seinem Meister Ranga Guru zurück. Der war nicht sonderlich erstaunt. Er sagte:

„Mein lieber Racici, beim ersten Mal hast du den Leuten die Möglichkeit gegeben, dich zu kritisieren. Davon haben sie Gebrauch gemacht, sogar mehr als du erwartet hast. Obwohl viele deiner Kritiker selbst überhaupt nicht malen, haben sie dein Bild kritisiert. Beim zweiten Mal hast du sie jedoch gebeten, deine Fehler zu korrigieren. Du hast sie aufgefordert, konstruktiv zu sein. Doch dazu braucht man Bildung. Keiner dieser Menschen hat es gewagt, etwas zu korrigieren, weil sie von Malerei keine Ahnung haben.

Mein lieber Racici, es reicht nicht ein Meister deines Fachs zu sein. Du musst in deinem Beruf auch weise sein. Erwarte nichts von Leuten, die nicht in der Lage sind deine Leistungen zu beurteilen. Deine Arbeit hat für sie keinen Wert. Biete deine Leistung niemandem an, der nichts davon versteht, und diskutiere deine Arbeit auch nicht mit solchen Leuten.“

Quelle: Cevdet Kılıç, ‘Bilgelik Hikayeleri’ 
Gefunden bei https://medium.com/@cihadturhan

1 Kommentar:

  1. Ein sehr schönes Gleichnis, das man nicht nur auf die bildende Kunst anwenden kann. Danke dafür.

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