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Montag, 12. Juli 2021

Im Auge des Betrachters

#supermemory

 

Millionen Menschen waren von der Schönheit der von Christo & Jeanne-Claude in abstrakte Objekte verwandelten Gebäude und Landschaften fasziniert. 2014 äußerte sich Christo zu seinen Arbeiten mit folgenden Worten: „Es ist total irrational und sinnlos.“ (Wikipedia)

Ist das nun ein Erinnerungsfoto, ein dokumentarisches Bild, ist es Kunst, oder ist es einfach nur total irrational und sinnlos, sich darüber Gedanken zu machen? 😂

Was veranlasst Sie, zur Kamera zu greifen, und Ihrer möglicherweise großen Bildersammlung stets weitere Motive hinzuzufügen?  

Es gibt immer einen, oder sogar viele Gründe und Erklärungen, warum wir tun, was wir tun. Das alles an die Oberfläche des Bewusstseins zu zerren, und vielleicht auch noch aufzuschreiben ist mühsam und aufwändig. Es ist einfacher zu sagen: Ich fand das Motiv spontan schön oder interessant, oder: Fotografieren macht mir einfach Spaß. Nur nervige Kinder fragen ständig nach dem Warum. 😉 

Wenn Sie Ihrem eigenen "Warum" auf die Spur kommen wollen, fangen Sie mit folgender Übung an:

  • Was geht Ihnen beim Anblick eines interessanten Motivs alles durch den Kopf ?

Es ist manchmal skurril, wenn man sich selbst beim Denken beobachtet. Lassen Sie die Kameraeinstellungen beiseite, das lenkt in diesem Kontext nur ab. Welche Assoziationen löst ein Motiv bei Ihnen aus? Das passiert meistens in Sekundenbruchteilen, noch bevor wir zur Kamera greifen. Weil wir es nicht gewohnt sind, diese Eindrücke bewusst und im Einzelnen wahrzunehmen, sind diese kleinen Gedankenfetzen sofort wieder weg. Folgt man ihnen einmal ganz absichtlich, wird klar, warum wir oft so zerstreut sind, und nicht wirklich konzentriert zur Sache gehen. Diese Übung kann uns aber auch die Beweggründe aufzeigen, warum wir uns für oder gegen ein Motiv entscheiden.

Als ich das oben gezeigte Foto aufnahm, kamen mir unweigerlich Christo & Jeanne-Claude in den Sinn. Sie wissen schon: Der verhüllte Reichstag in Berlin. Das ist lange her, und es erinnerte mich sofort an meinen Fotohändler. Er stöhnte über die Flut von immer gleichen Fotos, die er 1995 von der Kunstaktion zu sehen bekam. Dieses Fotogeschäft gibt es längst nicht mehr, es hat den Sprung in die digitale Welt nicht geschafft, und ich fragte mich, was aus dem Fotohändler geworden ist. Das hat mit meinem Motiv nicht mehr viel zu tun. Man kann auf jeden Gedanken aufspringen, jedes Stichwort löst neue Assoziationsketten aus, während wir die Kamera aufs Motiv richten.

Ich dachte an die Firma, die gerade die Fassadensanierung am Gebäude im Bildhintergrund durchführt. Die ist nicht berühmt, und hat keinerlei künstlerische Ambitionen. Das verhüllte Objekt sieht für mich aber trotzdem aus, wie eine Skulptur. Warum finden die meisten Menschen diese Fassadenverhüllung potenziell hässlich, und warum war der Reichstag damals hübsch? Nur weil zwei berühmte Künstler das Werk erschaffen hatten? Würde man dieses Objekt oder das Baumfoto schöner finden, wenn die Folienbahnen weniger oder akkurater verknittert wären? Was ist überhaupt Kunst, und liegt das nicht doch im Auge des Betrachters? 😂

Diese Firma macht hoffentlich einen guten Job, dachte ich weiter, und: Wann sind sie fertig? Wann ist eigentlich in unserer Wohnanlange die nächste Fassadensanierung fällig? Was wird uns das kosten? Die BewohnerInnen dieser Häuser haben heuer jedenfalls einen harten, weil besonders verdunkelten Sommer. Es regnet sowieso fast jeden Tag... Da möchte ich jetzt nicht wohnen. Gut, dass gerade kein Lockdown ist... Merken Sie was? Da steht ein Baum in der Morgensonne vor einem ungewohnten Hintergrund, und es tauchen drei Millionen potenzielle Gedanken auf, die mit dem praktischen Prozess des Fotografierens rein gar nichts zu tun haben. Sie haben aber sehr wohl etwas mit mir selbst zu tun, und mit meiner individuellen Entscheidung, dieses Motiv zu fotografieren: Der Kontrast zwischen #Mensch&Natur beschäftigt mich schon lange.

Als Fotonanny würde ich schreiben: "Es war das spezielle Licht, das mich auf den sonst völlig unauffälligen Baum aufmerksam machte. Spotlight an: Er ließ sich fotografisch vom sonst so unruhigen Hintergrund lösen. Die vielen grafischen Strukturen von Fenstern, Balkonbrüstungen und all das Zeugs, das mich sonst beim Fotografieren stören würden, sind zur Zeit verhüllt. Ohne die Knitterfolien dahinter wäre es nur ein Baum vor einem Gebäude, wie es viele Bäume vor Gebäuden gibt: Unspektakulär. Aber der Hintergrund ist Teil des Bildes. Stört er, oder hat er eine Bedeutung? Ich denke an Christo & Jeanne-Claude, also hat er eine Bedeutung. Wenn ich aber ein klassisches Hingucker-Kalenderfoto hätte machen wollen, wäre das kein geeignetes Motiv."

Sie finden, "Iiih, wie hässlich! Das gefällt mir nicht." Das kann ich verstehen. Ich ruf jetzt bei der Firma an, und sage denen, dass sie bitte ihre Fassadenverhüllung bügeln sollen, damit ich den Baum besser fotografieren kann. Wie im Fotostudio, auf  Hochglanz getrimmt. Vielleicht machen die daraus dann ein neues Geschäftsmodell? 😁 

Spaß beiseite. Die oben vorgeschlagene Übung können Sie auch mit bereits vorhandenen Fotos machen. Suchen Sie sich ein Motiv aus Ihrem Archiv und gehen Sie gedanklich zurück in die Situation, in der Sie die Aufnahme gemacht haben. 
  • Woran erinnern Sie sich? (Anlass, Umfeld, Personen, Situation...)
  • An welche Gedanken erinnern Sie sich, die Sie während des Fotografierens hatten? 
  • Welche Assoziationen kommen rückwirkend obendrauf? (z. B. Feedback von anderen, es hing jahrelang als Poster an der Wand, es wurde veröffentlicht, der Bilderrahmen ging beim Umzug kaputt... usw.)
  • Was gefällt Ihnen heute noch an diesem Bild - und was nicht? 
  • Was interessiert Sie generell an einem Foto? An Ihren eigenen, oder an denen von anderen?
Sie werden wahrscheinlich feststellen, dass in jedem selbstgemachten Foto für Sie selbst erheblich mehr drin steckt, als ein außenstehender Betrachter jemals wird sehen können. Sie finden es toll, die Internetgemeinde nicht. Das ist ein häufiges Problem, dem wir versuchen durch "bessere Fotos" und besseres Handwerk entgegenzuwirken.

Die Form (Gestaltung, technische Perfektion) spielt immer eine Rolle. Je besser sie ist, desto eher sind andere Menschen bereit, sich Ihre Fotos anzuschauen, und sich vielleicht auch mit dem Inhalt auseinanderzusetzen. Nach meiner Erfahrung kommt es aber nur selten zu inhaltlichen Diskussionen, weil die sehr schnell sehr persönlich werden können. Darum ist es einfacher und ungefährlicher, auf der technischen Ebene zu bleiben.
  • Fotografischer Smalltalk: Schönes Bild. Wo hast du das aufgenommen? Da will ich auch hin.
  • Fotografischer Techtalk: Welche Kamera, welche Belichtungszeit, welche Blende? Mit Stativ oder ohne? Das ist oben links nicht ganz scharf, ist das Objektiv in Ordnung? ...
  • Inhaltlicher Austausch: Was wolltest du vermitteln? Ist das rübergekommen?
Um überhaupt auf die Inhaltsebene gehen zu können, ist es gut zu wissen, was man mit einem Foto ausdrücken wollte. Wenn man schon einmal weiß, was es für einen selbst bedeutet, ist der erste Schritt geschafft. Ob man dann darüber reden will, ist eine andere Sache. In meinem Lightroom-Katalog gibt es das Schlagwort #supermemory. Es steht für Fotos, die massive Assoziationen in drei Millionen Richtungen auslösen. Wenn Sie mutig sind: Probieren Sie es aus. #fotopsychologie

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