Mittwoch, 20. April 2016

Ansichtssache


Die Welt ist dabei in Stücke zu fallen, und Leute wie Adams und Weston fotografieren Felsen!

Henri Cartier-Bresson


Dieses Zitat des französischen Fotografen stammt aus den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts, als sich die Welt in einer schweren Wirtschaftskrise befand. Adams und Weston konzentrierten sich weiterhin auf ihre ästhetischen Landschaftsbilder und Stillleben, während Cartier-Bresson sich der Streetfotografie widmete. Für ihn und viele Intellektuelle der damaligen Zeit galt die Devise, dass fotografische und künstlerische Arbeiten eine soziale bzw. gesellschaftliche Relevanz haben und die persönlichen Ansichten des Künstlers widerspiegeln sollten. Die Schönheit der Natur abzulichten war für sie nichts weiter als eine sentimentale, ja naive Sicht auf die Welt, die mit der Realität des Alltagslebens nicht allzu viel zu tun hatte.

Angesichts des aktuellen Zeitgeschehens scheint diese Frage erneut sehr berechtigt. Viele Fotografen beschäftigen sich aktuell mit Flüchtlingsporträts und ähnlichen Projekten. Wer banal schöne Natur- und Landschaftsmotive fotografiert, könnte da sehr schnell der Realitätsflucht bezichtigt werden.



Damals reagierte der Fotograf Edward Weston auch im Namen von Ansel Adams auf die Kritik, indem er sich sehr darüber wunderte, dass man die Bedeutung der Landschaftsbilder so unterschätzte. Diese seien sehr wohl "sozial relevant", weil sie eine ausgesprochen starke Wirkung auf die Psyche der Menschen hätten.

Unter dem Titel "Die Wildnis im Kopf" befaßte sich der Autor Thomas Saum-Adelhoff bereits 1993 mit unserer Wahrnehmung von Natur und Landschaft und seine Erkenntnisse bestätigen Westons Aussage. Es scheint einen unabhängigen psychischen Mechanismus zu geben, der Menschen unterschiedlichster Herkunft auf bestimmte Landschaften identisch reagieren lässt. Versuche haben gezeigt, dass Menschen in Krankenzimmern mit Blick ins Grüne schneller genesen als anderswo.

Kulturübergreifend werden parkähnliche Landschaften mit Flüssen, Seen, Baumgruppen und Wiesen als angenehm empfunden. Ein schroffes, wildes Bergpanorama wühlt uns emotional auf, Waldlichtungen stimmen uns sanft, und der Anblick zersiedelter Ballungsräume deprimiert uns. Selbst Personen, die noch nie eine Steppenlandschaft gesehen hatten, reagierten in einem Test mit erhöhten Alphawellen, einer Gehirnfrequenz, die einen entspannten Zustand signalisiert.


Deshalb vermutet man, dass der beruhigende Einfluss von Wiesen- und Steppenlandschaften Teil unseres evolutionären Erbes ist. Zum größten Teil handelt es sich jedoch um ein kulturelles Erbe und das Ergebnis eines Lernprozesses. Wälder gelten insbesondere in Deutschland als mythenumwobener Raum. Unser landschaftliches Schönheitsideal hat sich verändert - und wird sich weiter verändern. Die große Begeisterung für die Natur wurde erst dadurch möglich, dass diese inzwischen fast überall vom Menschen beherrscht wird und ihre Bedrohlichkeit verloren hat.
Das, was wir als "Natur pur" erleben, ist nicht selten eine geschichtlich entstandene Kulturlandschaft. Das macht sie jedoch nicht weniger wertvoll.



Problematisch, so Saum-Adelhoff, ist es jedoch, dass wir unsere Probleme in die Natur hinaus tragen und vor lauter Erholungssuche dabei sind, auch noch die letzten unberührten Flecken zu zerstören. Dass dies mittlerweile traurige Realität ist, wird von Tierfilmern weltweit bestätigt. "Viel wichtiger wäre es, in der Stadtplanung und in unserem unmittelbaren Umfeld dafür zu sorgen, dass Oasen geschaffen werden oder erhalten bleiben, in denen wir uns wohlfühlen können", forderte Saum-Adelhoff deshalb bereits vor über zwanzig Jahren.


Ergänzend möchte ich an dieser Stelle hinzufügen: Es ist absolut wichtig, dass WIR uns weiterhin wohlfühlen. Das klingt wie Egoismus, aber manchmal ist diese Haltung die gesündeste. Wer ruhig, gelassen und entspannt ist, kann den Herausforderungen des eigenen Lebens - und denen des Zeitgeschehens - besser begegnen. Genau deshalb ist es wichtig, dass wir uns immer wieder Phasen des Rückzugs gönnen, eine Runde durch den Park drehen und mit offenen Augen wahrnehmen, dass es neben all dem Scheiß (das Wort muss jetzt einfach sein) auch noch das Schöne gibt. Sorgen wir als Fotografen also dafür, dass andere auch das zu sehen bekommen. Nachrichten aus und raus!

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