Dienstag, 7. September 2021

Humbug

 

Ein Bild sagt mehr als hundertvierzigtausend Worte, titelt der Newsletter-Betreff der Münchner vhs, der gerade in meinem Posteingang gelandet ist. Wissen Sie, wie lange es dauert, bis Sie hundertvierzigtausend Worte gelesen haben? Das entspricht einem Buch mit etwa 450 Normseiten. Wenn Bilder wirklich so viel quatschen, wieso schauen wir sie dann nur ein paar Sekunden lang an? Und: Haben wir dann wirklich alles verstanden, was sie uns so beredt erzählen wollten? Ich habe da so meine Zweifel. Schon der große Weise Loriot wusste, wie schnell man sich mit Sprache vertüddeln kann. Bei der Bildsprache gilt das erst recht.

Der vhs-Newsletter drehte sich nicht um Fotografie, sondern um Bildende Kunst. Da wird mehr mit Symbolen gearbeitet als in der klassischen Fotoszene oder bei Instagram. Für ein Bild von Hieronymus Bosch oder Salvador Dalí mag das mit den hundertvierzigtausend Worten hinkommen. Aber selbst wenn ein Bild mehr als tausend Worte sagt, muss man sich schon überlegen: zu welchem Inhalt bitteschön? Und was genau sagen die denn so, diese Bilder?

Ententanz
(Auch Enten gähnen, wenn sie müde sind. Hier nicht im Bild.)


"Tausend Worte" füllen ungefähr zwei Seiten eines Word-Dokuments, Schriftgrad 12. Schreiben Sie doch einmal zwei Seiten Text über eines Ihrer Bilder, und dann lassen Sie jemand anderen ebenfalls zwei Seiten Aufsatz über dieses Foto schreiben. Abgesehen davon, dass sich niemand dieser Qual unterzieht, würde ich mich wetten trauen, dass Sie beide nicht den gleichen Text schreiben. Wenn man anfängt logisch zu denken, geraten so manche Regeln ins Wanken. Ein Bild, tausend Worte...? Gut, dass wir so selten Zeit zum Nachdenken haben. Nur so können sich diese Floskeln über einen so langen Zeitraum halten. Marmor, Stein und Eisen bricht... aber diese Regel nicht?

Als Autorin fällt es mir leicht, zu jedem Bild eine Geschichte zu schreiben. Ich kann Ihnen erzählen, wie ich mein Motiv gefunden, wie ich meine Kamera eingestellt, und worauf ich beim Fotografieren geachtet habe. Das hilft Ihnen vielleicht weiter, wenn Sie selbst vor einem ähnlichen Motiv stehen. Damit habe ich Ihnen aber noch nicht erzählt, warum mich das Motiv begeistert hat. Manchmal fotografiere ich aus purer Langeweile. Zum Beispiel, wenn ich vor der Zahnarztpraxis warte, bis mir meine Zahnfee die Tür aufmacht, und die Beißerchen reinigt.

Ja genau: "Ach, ist das Gras schön grün." (Loriot)

Für einen Kunstkatalog würde ich tausend kluge Worte über die Genialität dieses Motivs in verschwurbelten Sätzen mit vielen Substantivierungen  schreiben, um Sie zum Kauf des einzigartigen Meisterwerks zu bewegen, in dem sich moderne Architektur und Gartenbaukunst im Widerstreit mit der vom Klimawandel des Homöozäns gepeinigten Natur befindet, hier aber dennoch in einer harmonischen, ja beinahe Yin-Yang-förmig anmutenden Harmonie einer Versöhnung zustrebt. 

Bullshit Bingo.

In Fotografenkreisen gilt die Regel: Gute Bilder muss man nicht erklären. Sie erklären sich selbst. Oder auch: Ein Bild, das man erklären muss, ist kein gutes Bild. Das habe ich schon lange für einen sogenannten "Glaubenssatz" gehalten, den ich so nicht länger stehenlassen kann. Wir sehen Bilder und reagieren spontan darauf, das ist völlig richtig. Bilder zielen auf unsere Emotionen, darum treffen uns manche mitten ins Herz. Andere lehnen wir ab. Ob schön oder hässlich: Beide umgehen unseren Verstand. Deshalb hat mich der Satz von Professor Rainer Mausfeld tief getroffen: Bilder allein können nie einen gedanklichen Zusammenhang stiften. Sie sind isoliert von der Sprache und vom Begreifen. Sie sind für unser Verstehen wertlos - und (mitunter) gefährlich. Besonders kritisch wird es, wenn Bilder in einem Kontext gezeigt werden, der gar nicht den realen Umständen entspricht. Unser Gehirn lässt sich gerne täuschen, und wir merken es nicht, weil wir dem Gehirn nicht oder nur sehr vage beim Denken zuschauen können. Ich weiß, es kann sehr nervig sein, wenn jemand seine Bilder wortreich erklärt. Aber manche Geschichten sind weitaus interessanter als die Bilder. Sie erzählen etwas über den Menschen hinter dem Bild. Wenn man sich "nur" für Fotografie begeistert, und diese losgelöst vom Menschen betrachtet, sieht man nur das halbe Bild.

Ihre Bilder sind wahrscheinlich nicht gefährlich, da kann ich Sie beruhigen. Als Amateur machen Sie einfach nur das, was Ihnen Freude macht. Wenn Sie Profi sind, für Kunden, fürs Marketing oder für die Presse arbeiten, müssen Sie anders fotografieren, weil Ihre Bilder eine Person, eine Dienstleistung oder eine Information verkaufen sollen. Möglichst authentisch natürlich. 😏 Dabei unterliegt die Bildästhetik einem ständigen Wandel. Gestern waren Fotos stylish, heute dürfen sie authentische Fehler haben, und morgen sucht die Agentur vielleicht das grottenschlechte Knipsbild. Wir sind vor keiner noch so bescheuerten Mode sicher.

Welche Ästhetik auch immer zur Anwendung kam: Bilder zeigen stets einen sehr subjektiven Ausschnitt der Wirklichkeit. Manche lügen bewusst. Behalten Sie das im Kopf, wenn Sie Fotos anschauen, egal wo. Vertrauen Sie nicht auf das Mantra mit den tausend Worten. Nehmen Sie lieber die hundervierzigtausend Worte, lassen Sie sich das am besten schriftlich geben, und lesen Sie jeden Satz mit wachem Verstand. 😅 Jaja, ich weiß. Viel zu anstrengend.



Die Wahrheit dieser beiden Bilder ist so variabel wie der Verkehr auf dem Mittleren Ring. Das hat noch nicht einmal etwas mit Lockdown, Ferien oder einer bestimmten Tageszeit zu tun. Ich staune selbst immer wieder, wie unterschiedlich die Welt an zwei verschiedenen Tagen aussehen kann. Manchmal ist sie einfach wunderschön, und manchmal kommt mir die Realität völlig absurd vor. Deshalb fotografiere ich, um mich regelmäßig zu vergewissern, dass ich nicht träume.  😉

Nächstes Mal erkläre ich Ihnen dann wieder, wie Sie Ihre Kamera einstellen müssen. Ich bin sicher: Sie werden total erleichtert sein, weil das VIEL einfacher ist als die Beschäftigung mit #Bildsprache. 😎

2 Kommentare:

  1. Gut geschrieben, gut beschrieben...
    Es muss nicht zu jedem Bild einen Artikel geben, aber einen Titel oder eineBildunterschrift schon. Nur so erschließt sich dem Betrachter die subjektive Wahrheit des Fotografierenden. Das setzt natürlich auch eine gewisse schriftliche Kommunikationsfähigkeit voraus.Ich fotografiere und schreibe, also habe ich ein Kommunikationsprojekt. Gruß nach München, Thomas Haas

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  2. Danke für die Bilder und Beiträge (Betrachtungen, Anschauungen), freue mich schon auf weitere Veröffentlichungen.

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