Donnerstag, 28. April 2022

Künstliche Natürlichkeit

Wie gut ist Ihre Bildbearbeitung?, titelte unlängst die Betreffzeile eines Newsletters. Sinngemäß ging es weiter: Jedes Kalender- oder Wettbewerbsfoto braucht einen Wow-Effekt. Die Konkurrenz macht es genauso, und wenn Sie Ihre Bilder nicht an diesen Standard anpassen, kaufen die Kunden Ihren Kalender nicht.

Die Aufforderung ist klar und eindeutig: Ohne "exzellent nachbearbeitete Bilder" hat man auf "dem Markt" keine Chance. Wir erleben gerade ein Phänomen, das wir aus der Nahrungsmittelbranche kennen: ohne Geschmacksverstärker schmeckt es nicht.
Gründe mitzumachen gibt es viele. Unter'm Strich bringt es Vorteile: Erfolg, Ansehen, Einnahmen. Vielleicht haben auch Sie sich längst an diese moderne Ästhetik gewöhnt, und finden sie selbst so schön, dass man Sie gar nicht auffordern muss, dem Trend zu folgen. Indem Sie es tun, tragen Sie dazu bei, diese Entwicklung weiter zu verstärken. Im Umkehrschluss führt der Trend zu überhöhten Bildern dazu, dass "natürliche Fotos" auf die meisten Menschen wirken wie Anfängerbilder.
 
Der "Normalverbraucher" hat vom Fotografieren keine Ahnung, und hält das Hochglanz-Endergebnis für ganz natürliche Fotos. Was heute aus einer Kamera kommt, hat mit den Digitaldateien von früher nicht mehr viel zu tun. Aber selbst das ist nicht mehr genug: "Farbkorrigierte, kontraststarke Fotos, sprich exzellent nachbearbeitete Bilder mögen nichts mit der Realität in der Aufnahmesituation zu tun haben. Es passt aber zu den Sehgewohnheiten, die sich durch lichtstarke Monitore sowie digitale Filter in Social-Mediabeiträgen verändert haben." 
 
Stopp!
Lesen Sie den Absatz oben noch einmal, und denken Sie einen Moment lang nach. Was passiert da gerade?  
 
Die Geister, die wir gerufen haben
 
Auch meine Fotos sind (fast) alle nachbearbeitet. Die Korrekturen sind motivabhängig, mal stärker, mal eher moderat. Von welcher "exzellenten Nachbearbeitung" sprechen wir? Ich weiß von Kolleg*innen, dass sie mittlerweile auf Kundenwunsch "überbearbeitete" Bilder abliefern. Der Profi selbst hätte gar nicht so viel an den Motiven herumkorrigiert, aber der Kunde ist König und man will nichts riskieren. Die Schönheits-OP per Mausklick ist schon lange Standard beim Imagefoto. Wir wollen gut aussehen, also wird getrickst. Gut, dass wir unsere eigenen Passbilder nur selten anschauen müssen. 


Realitätsverzerrung
Lichtstarke Monitore und digitale Filter in den Social Media zeigen uns eine Welt, die mit der (analogen) Realität nichts mehr zu tun hat. Ich weiß nicht, wie Sie die Realität wahrnehmen, wenn Sie da draußen unterwegs sind. Ich weiß auch nicht, wieviel Zeit Sie pro Tag vor einem lichtstarken Monitor verbringen, und wie lange Sie die Welt ohne einen dieser eckigen Kästen sehen.
Wenn Sie Ihre Umgebung anschauen, schauen Sie dann bewusst hin, oder nur so nebenbei mit einer Art innerem Tunnelblick, weil sie in Gedanken mit etwas ganz anderem beschäftigt sind? Wie nehmen Sie die "echte Welt" wahr, in der nicht alles so schön glattgebügelt ist, wie auf Instagram oder in Hochglanzkalendern? Ist sie langweilig? Farblos? Durcheinander? Nicht gut genug? Sind unsere Ansprüche vielleicht ein bisschen aus dem Ruder gelaufen, weil wir zu viele zu schöne Fotos vor Augen haben, mit denen unsere eigene Realität nicht mithalten kann? Das wäre dann kein fotografisches sondern ein psychologisches Problem.
 
Realitäts-Check
Unterziehen Sie Ihre besten Bilder einem Realitäts-Check. Wieviel Wirklichkeit steckt noch drin? Sind Ihre Bilder nur "bearbeitet" oder schon "überbearbeitet"? Natürlich ist es eine fotografische Aufgabe, Motive so darzustellen, wie wir sie sehen. Wir sorgen für Ordnung im visuellen Chaos, heben einzelne Aspekte einer Szene heraus, oder fangen besondere Lichteffekte ein. Wir kaschieren schon durch die Wahl der Perspektive ungünstige Proportionen oder gleichen Verzerrungen aus. Aber wie weit wollen wir in der Nachbearbeitung gehen? Wann ist es zu viel? Wir können aus einer hässlichen Eule eine Barbie formen, die technischen Möglichkeiten sind unbegrenzt. Schon jetzt gehen Jugendliche zur Schönheits-OP, damit sie so aussehen, wie auf ihren gefilterten Fotos. Da wackelt der Schwanz mit dem Hund.


 
Landschaften und Sonnenuntergänge haben kein Problem damit, wenn man sie erheblich bunter und ansehnlicher macht, als sie in Wirklichkeit waren. Die kriegen davon wenigstens keine Essstörungen. Selbstbetrug funktioniert eine Weile, aber es ist ein Spiel mit dem Feuer. Wer fängt all diese Leute auf, wenn sie mit der Wirklichkeit konfrontiert werden?

Realitätsverlust
Die surrealste Szene, die ich je beobachtet habe, war eine gut gekleidete junge Frau, die auf einer Parkbank saß, und in ihr Smartphone starrte.  Um sie herum, hinten, rechts, links und sogar unter der Parkbank lagen Tonnen von Abfall:
Plastikverpackungen, ToGo-Becher, Pizzaschachteln, Zigarettenkippen und vieles mehr. Die Frau saß quasi auf einer Müllhalde, mitten im Dreck, und nahm nur wahr, was sich auf dem Monitor ihres Smartphones abspielte. Größer kann der Realitätsverlust kaum sein. Die wirkliche Welt ist oft nicht besonders hübsch, und sie wird nicht hübscher, wenn wir wegschauen oder sie mit Fotofiltern nachbearbeiten. Verlieren wir uns da in möglicherweise gefährlichen Illusionen?

 
Unterwegs in eine "virtuelle Realität"?
Warum noch fotografieren, wenn die Wirklichkeit nicht gut genug ist, für ein "verkaufsstarkes Foto"? Sie könnten sich Ihr Motiv auch in einer virtuellen Realitätssoftwareschmiede backen. Filtern Sie sich schön und jung, entfernen Sie störende Elemente und störende Passanten vollautomatisch, und tauschen Sie den Himmel nach Belieben aus. Es spart nicht nur Reisekosten, sondern auch unangenehme Erfahrungen. Am besten treffen Sie niemanden mehr von Angesicht zu Angesicht. Mit einer 3D-Virtual-Surround Brille fühlt sich Ihr aufgehübschtes Erlebnis bald noch viel realer an: Auf ins Metaversum.  Ich kann mir gut vorstellen, dass es so angefangen haben wird, wenn wir eines Tages feststellen, dass wir Avatare in einer virtuellen Welt sind, und gar nicht real existieren. Elon Musk ist angeblich ein Anhänger dieser Theorie. Wenn wir dann doch mal vor die Tür gehen müssen, denken wir: Oh, das ist aber gar nicht hübsch hier. Stimmt. Wenn ich mich so umsehe, überlege ich mir manchmal auch, ob es sich in diesem Metaversum schöner leben lässt, als in der aktuellen Wirklichkeit.

In welcher Welt leben Sie?
Mir kommt Instagram vor wie Disneyland. Wollen wir uns der vermeintlichen Diktatur der schönen und glattgebügelten Fotos unterwerfen?

Als Hobbyfotograf*in könnten und können Sie Ihr eigenes Ding machen. Nutzen Sie diese Freiheit oder entdecken Sie sie neu. Auch Profis sind gut beraten, einen eigenen, unverkennbaren Stil zu entwickeln, anstatt dem Mainstream hinterherzulaufen. 
Was ist überhaupt "der Markt", und: Gibt es da nicht noch verschiedene Zielgruppen mit unterschiedlichen Geschmäckern? Hausmannskost, Haute Cuisine, Molekularküche - oder doch immer wieder Pizza und Coffee ToGo? 
 
In den  Nachrichtenkanälen bekommen wir zum Frühstück und Abendessen die andere Seite serviert,  düstere Dystopien, da kriegt man schon beim Hinschauen Depressionen. Zum Ausgleich umgeben wir uns mit überzuckerten Wow-Bildern? Ein gesundes Mittelmaß wäre realistischer, aber das sieht als Foto halt nur mittelmäßig aus. Kein Wow-Effekt, keine Anerkennung, kein Verkaufserfolg. Wer zahlt die Miete? Wer in diesem System steckt, muss mitmachen, sich dem Gruppendruck fügen, und die Anforderungen erfüllen. Das sind die Mechanismen der Leistungsgesellschaft. 
 
Durch die Art und Weise wie Sie Ihre Fotos bearbeiten, können Sie dem jeweiligen Motiv eine ganz besondere "Stimmung" mitgeben. Als ich diese knochige Breze aus der Bäckertüte holte, wollte ich das Bäckerei-Desaster nicht nur dokumentieren, sondern auch "visuell unterstreichen" und verstärken. 
Wo ist Ihre Nische, in der Sie sich mit dem, was Sie von Herzen gerne machen, wirklich wohlfühlen? Klar, als Profi müssen Sie auch Geld in dieser Nische verdienen können. Es ist klar, welche Breze Sie kaufen würden - und welches Foto.Es ist klar, welche Breze Sie kaufen würden - und welches Foto.
 
 
Sehgewohnheiten ändern sich - immer wieder
Nach vielen Jahren als Beobachterin dieser Welt ist mir eine Gesetzmäßigkeit aufgefallen, die sich ständig wiederholt: Zu jedem Extrem gibt es eine Gegenbewegung. Daher rechne ich damit, dass sich eine Art Anti-Instagram-Ästhetik entwickeln wird. Nennen wir sie spaßeshalber  "echte Natürlichkeit" oder "Biofotos". Die werden zuerst belächelt, dann bekämpft, und schließlich selbst wieder zum Mainstream. Bildagenturen werden solche "Biofotos" suchen, und die überwürzten Hochglanzfotos von heute erscheinen dann so peinlich wie die Mode der 1970er und 1980er Jahre.
Nach weiteren zehn oder zwanzig Jahren kommt wieder jemand, der gegen die Biofotografie aufbegehrt, und man wird den Kurs erneut wechseln. Der Kreis schließt sich, und es beginnt ein neuer. Nichts ist beständiger als der Wandel.
 

3 Kommentare:

  1. Danke für diesen schönen Text, der so viel rund um die Bildbearbeitung abdeckt. Das mit dem Tunnelblick oder dem veränderten Sehen kann ich gut nachvollziehen. Wer sich einmal die Fotos etwa bei 500px angesehen hat, der weiß genau, was Du meinst. Ohne Geschmacksverstärker geht da offenbar gar nichts. Deshalb verstehe ich die Sorge. Aber manchmal ist es auch genau andersherum. Dann sehe ich ein wunderbares Motiv in schönem Licht, und wenn das Foto aus der Kamera kommt ist es eher flau und der Effekt nicht sichtbar. Dann hilft nur, an den Reglern zu drehen, um das herauszubekommen, was ich zeigen wollte. Es gibt bei der Bildbearbeitung eben viele Varianten und vieles zu bedenken.

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  2. Danke auch von mir für diesen Text. Ähnlich wie z.B. Jugendliche dem schönen Schein von Instagram & Co nacheifern, ertappe ich mich dabei an meinen Fotos zu Zweifeln, die nicht den aufgepeppten Hochglanz Bildern entsprechen. Es gilt Erwachsen zu werden (oder bleiben) und sich zu emanzipieren und seinen ganz eigenen Stil zu entwickeln. Auch wenn der vielleicht gerade nicht dem mainstream entspricht.

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  3. Ja, vielen Dank! :-)
    @Susanne: Klar, die Situation, dass Bilder flau aus der Kamera kommen, kennt wahrscheinlich jede*r. Dass wir sie dann optimieren, gehört zum üblichen Workflow. Manchmal sind es Aufnahmefehler (z.B. Unterbelichtung), manchmal ist der Schleier witterungsbedingt (Nebel, hohe Luftfeuchtigkeit), es entsteht ein diffuser Lichteinfall bei Gegenlicht, oder die eingesetzte Kamera bringt's aus anderen Gründen nicht (mein olles Smartphone). Bildbearbeitung ist okay, auch die extreme, wenn man damit etwas Spezielles ausdrücken will. Worum es hier geht ist die grundsätzliche "Überzeichnung", bei der aus nahezu allem ein Hochglanzprodukt gemacht wird, einfach nur, um der Ästhetik willen. Wie beim Turbogemüse, das toll aussieht, aber am Ende doch nicht schmeckt, und vielleicht sogar ungesund ist. ;-)

    @Anonym: Der Zweifel gehört dazu, und ich find's gut, ihn zu "beobachten". Wenn man ihn erkannt hat, kann man sich überlegen, wie man weiter vorgeht - die eigene Motivation und die Ziele hinterfragen. Warum glaube ich, dass diese oder jene Bearbeitung notwendig ist? Wie verändert sich die Bildwirkung, wie reagiert die Zielgruppe, wie würde ich das Foto ausarbeiten, wenn es nur für mich selbst wäre? Der Gedanke sich zu emanzipieren und dem eigenen Stil zu vertrauen gefällt mir gut. :-) Es ist manchmal ein steiniger Weg, aber wenn alles gleich aussieht, wird's insgesamt langweilig. Also ruhig mehr Individualismus wagen.

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