Donnerstag, 15. Oktober 2020

Werden und Vergehen - Langzeitprojekt

Vielleicht erinnern Sie sich an den Blogartikel Beobachtungsgabe, in dem ich mich fragte, wieviele Arten von Grün es im Lauf des Jahres in der Natur zu sehen gibt. Heute können Sie sich meine Feldstudie dazu anschauen. 

Ein eng damit verwandtes Thema ist der Klassiker Jahreszeiten. Sie kennen ihn aus der Fotoliteratur, aus Wettbewerben oder aus Ihrem Fotoclub, falls Sie einem angehören. Unter diesem Motto sieht man meistens Landschaftsfotos, die typischen Wow-Bilder. Was auch immer wieder gerne genommen wird, und sich als Motiv gut eignet, sind einzelne Bäume auf einem Feld, die man dann im Frühling, Sommer, Herbst und Winter fotografiert. Meine Feldstudie ist im Vorbeigehen und mit verschiedenen Kameras entstanden. Im fotografischen Sinn ist sie völlig unspektakulär. Sie zeigt jedoch sehr eindrucksvoll, wie das "Werden und Vergehen" in der Natur abläuft. 

Für mich war es eine gestalterische Herausforderung und eine Grundsatzfrage, wie ich mit der dramatischen Veränderung umgehen sollte, die mein Langzeit-Motiv zwischen April und Oktober durchlief.

Im April waren es die spiralförmig aufgerollten Blattspitzen, die mich zunächst aus formal-ästhetischen Gründen anzogen. Detail- und Makroaufnahmen sind fotografisch oft am einfachsten, weil man ein unruhiges oder störendes Umfeld gut ausblenden kann. Durch verschiedene Blickwinkel, Brennweiten oder Bildausschnitte bekommt man mit relativ wenig Aufwand ganz unterschiedliche Bilder. Als ich meine ersten Bilder machte, dachte ich noch nicht an ein Langzeitprojekt.

Mein Motiv steht unmittelbar an einem künstlich angelegten Bach, dessen Ufer mit Holzlatten befestigt ist. Die dominante waagrechte Linie im folgendem Bild ist ein Problem, wenn man das gesamte Ensemble fotografisch reizvoll umsetzen will. Bei dokumentarischen Bildern liegt die Messlatte nicht so hoch, wie bei Hochglanz- oder Postkartenmotiven. Auf der Suche nach Grüntönen wollte ich auch das Umfeld der Farne zeigen. Deshalb entschied ich mich hier für einen Bildaufbau nach der klassischen Drittelregel und achtete darauf, dass die Linie im Hintergrund wenigstens gerade verläuft. Anfang Mai waren die einzelnen Pflanzen satt hellgrün, sie hoben sich gut vom dunklen Hintergrund ab und waren noch gut voneinander zu unterscheiden.

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Mitte Mai hatte sich bereits ein Wald aus Farnen gebildet, die Pflanzen schossen in die Höhe und standen so dicht, dass ich nicht mehr so nahe heran kam. Im Foto waren sie visuell nur noch schwer von einander zu trennen. Um ihre beachtliche Höhe zu dokumentieren, nahm ich deshalb den vertikalen Eisenträger mit ins Bild. Die Horizontlinie verlegte ich vom oberen ins untere Bilddrittel, weil es sich jetzt auch lohnte, die Vegetation im Hintergrund zu beobachten.

 
Ende Mai standen die Pflanzen so dicht, dass sie den Bach und den Eisenträger komplett verdeckten. Der Standort hatte sich in einen regelrechten Urwald verwandelt, die Farne reichten mir bis zur Hüfte, und ich musste den Abstand zum Motiv weiter vergrößern. Jetzt boten sich der kleine Baum rechts und die schmalen Bodenplatten an, um eine visuelle Orientierung im Farnwald zu behalten.

Im Juni blühte ein benachbarter Strauch, also fotografierte ich meine Farne erneut aus einer leicht veränderten Perspektive, um diesen Farbkontrast zu dokumentieren. Das satte Maigrün fing in dieser Phase ebenfalls an sich zu verändern. Wenn Sie die Bilder genau anschauen, werden Sie bemerken, dass alle Motive ohne direktes Sonnenlicht aufgenommen sind, also entweder an bewölkten Tagen oder morgens, wenn die Stelle noch im Schatten liegt. Dadurch vermeide ich extreme Kontraste, die gerade bei hell angestrahltem Blattwerk immer wieder zu überbelichteten und "ausgefressenen" Stellen im Motiv führen.


OMG... Im Juli breiteten sich andere Pflanzen aus und überwucherten die Farne... Was für ein Chaos, fotografisch betrachtet. Aber ist es nicht auch faszinierend, was hier passiert? Das ist kein exotischer Regenwald. Das ist eine Stelle in München, an der niemand korrigierend in die Natur eingreift! Eine Zeitlang kam ich an das Motiv kaum noch ran, weil es durch einen stacheligen Brombeerstrauch regelrecht verbarrikadiert war.

Ende August wurde es wieder lichter am Bach. Die Grüntöne veränderten sich nun deutlicher: Die Farne wurden an den Spitzen gelb, andere Pflanzen entwickelten dunklere Grüntöne. Die satte Fülle des Hochsommers war vorbei. Der Spätsommer präsentierte ein immer noch leicht chaotisch anmutendes Motiv, aber der Herbst war schon zu ahnen.

September: Das visuelle Chaos sortierte sich wie von selbst. Die Farne zogen sich zurück und die Szene wirkt plötzlich "aufgeräumter".

Oktober: Die Zeit der Farne ist vorbei - ihre rostbraune Färbung verändert die Szene komplett. Der Bach mit der waagrechten Holzlatte und der Metallpfeiler werden im Hintergrund wieder sichtbar. Es findet sich noch einiges an verschiedenen Grüntönen, aber nach den ersten kalten Nächten nehmen die Gelbtöne deutlich zu - mein Projekt endet erst einmal.

Die Einzelbilder meiner Feldstudie werden bei Ihnen keinen Wow-Effekt ausgelöst haben, aber vielleicht haben Sie trotzdem Lust bekommen, die feinen Veränderungen in Ihrer Umgebung genauer zu beobachten und vielleicht auch in einem eigenen Projekt zu dokumentieren. 😊 

Fragen Sie sich bei Ihrer Fotografie, ob Sie Bilder eher wegen deren Inhalt (Sinn, Bedeutung, Symbolik) machen, oder eher aus formal-ästhetischen Gründen. Im Idealfall geht beides Hand in Hand, aber nicht jedes Motiv gibt beide Aspekte gleichzeitig her. 

Jetzt steht erst einmal der Herbst-Klassiker ins Haus: buntes Laub, vielleicht ein Goldener Oktober? Genießen Sie die Farben!

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