Beim Fotografieren gibt es manchmal einen "Wow-Effekt", der im späteren Bild nicht zu sehen oder nur schwer zu vermitteln ist. Ein Foto, das man erklären muss, ist kein gutes Foto. Sie haben das selbst wahrscheinlich schon oft erlebt. Da war etwas, das Sie magisch angezogen hat, aber das Foto kann Ihr Erlebnis nicht transportieren. Warum ist das so?
Ein perfektes Foto verdichtet viele Informationen, Gefühle und Assoziationen sozusagen "auf einen Schlag". Wir sprechen vom perfekten Moment, vom perfekten Licht und die perfekte Positionierung von Bildelementen sorgt dafür, dass die Botschaft beim Betrachter unmittelbar ankommt. Wer so ein Foto anschaut, erlebt das gleiche, was der/die Fotografierende beim Auslösen der Kamera erfahren hat. Ob das wirklich immer so ist, sei dahingestellt. Auf jeden Fall haben diese "perfekten Bilder" eine starke emotionale Wirkung. Beim Fotografieren, greifen wir auf eine gemeinsame Symbolsprache zurück: die Rose, der Sonnenuntergang, die dramatischen Wolken, das Spiel von Licht und Schatten, das lachende Kindergesicht... Wenn wir diese Elemente nutzen, die Kamera richtig einstellen und das Bild gut gestalten, gefallen die Fotos auch anderen Menschen, die nicht am Ereignis beteiligt waren. Gutes Foto, Wow-Effekt.
Aber es gibt eben auch diese anderen Bilder, bei denen das nicht so reibungslos funktioniert. Die
schlüssigste Erklärung ist meistens, dass man einen technischen Fehler gemacht hat, oder dass beim Bildaufbau etwas nicht
stimmt. Im folgenden Beispiel trifft das zu: Das Motiv ist unruhig,
der Linienverlauf ist nicht optimal. Oft gibt es störende Elemente, die
man übersehen hat, nicht aus dem Bild verbannen konnte, oder die
Beleuchtung ist ungünstig. Wenn es "nur" um gute Fotos geht, die man
herzeigen will, kann man solche Bilder getrost löschen. Wenn Sie aber zögern und solche Bilder nicht löschen wollen, geht es um eine andere Ebene der Fotografie. Viele Motive sind persönliche "besondere Momente", die aus komplexeren Informationen und Assoziationen bestehen.
Kreatives Nichtstun
Nicht nur in diesen Tagen sitze ich oft auf dem Balkon und schaue einfach so in die Gegend. Die Wolken ziehen vorbei, die Vögel zwitschern, der Wind rauscht in den Bäumen... und ein Martinshorn jault über den Mittleren Ring. Während ich neulich so da saß, fiel mein Blick auf den roten japanischen Fächerahorn, den wir vor neun Jahren in unseren großen Blumenkasten gepflanzt hatten. Sein Anblick hat uns immer viel Freude bereitet, aber letztes Jahr sah er ziemlich krank aus. Wir hatten Sorge, dass er den Winter nicht übersteht. Zu meinem großen Erstaunen entdeckte ich, dass er nun zum ersten Mal blühte.
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Die winzigen Blüten waren überall an der Pflanze. Nicht mal mein Mann, der den Baum jeden Tag gießt, hatte sie gesehen. Unten links im Foto sehen Sie noch einige davon, sie sind nach und nach abgefallen. Eine Woche später hatte der Ahorn seine typischen geflügelten Samen ausgebildet. Zur Erinnerung: der gesamte Baum war mit Blüten übersät gewesen. Die wenige Samen sind aber nur an zwei Stellen gewachsen. Sie befinden sich extrem weit außen, wo die Zweige über die Kante des Balkonkastens hinaus oder nach innen in den Balkon hineinragen.
Offensichtlich weiß diese Pflanze sehr genau, wo es am sinnvollsten ist, ihr Saatgut abzuwerfen: möglichst weit vom eigenen Stamm entfernt mit maximaler Flugbahn nach unten. Diese "Intelligenz" hat mich am meisten beeindruckt.
Die kleinen Flügel sind nur etwa 0,5 cm groß. Sie sind leicht zu übersehen und es war noch schwieriger, mit der Kamera an diese Winzlinge heranzukommen. Kein perfektes Foto, aber ein besonderes Erlebnis, das mich längere Zeit beschäftigt hat. Jetzt überlege ich, ob ich einen neuen Baum aus den Samen ziehen kann.
Was hat meine Ahorn-Geschichte mit Ihrer Foto-Leidenschaft zu tun?
Ganz einfach: Kultivieren Sie das genaue Beobachten. Es ist die Grundvoraussetzung des Fotografierens, egal welche Motive Sie bevorzugen. Schauen Sie nicht nur, schauen Sie hin. Aktivieren Sie alle Ihre Sinne. Machen Sie das ganz bewusst und machen Sie beim Fotografieren langsamer als üblich. Ihre Fotos werden dadurch vielleicht nicht (sofort) besser, aber Ihr Erleben beim Fotografieren verändert sich. Sie schauen nicht mehr die reine Oberfläche eines Objekts an, die hübsch anzusehen oder fotogen ist. Ihre Wahrnehmung dehnt sich aus und Ihr Unterbewusstsein nimmt zur Kenntnis, dass gerade etwas Wichtiges oder Interessantes passiert. Danach werden Sie mehr sehen und vielleicht gar nicht mehr aufhören können, all diese neuen Dinge zu entdecken.
Neue Dinge sehen, bekannte Dinge neu sehen - oder beides.
Nach meiner "Ahorn-Erfahrung" ist mir eine Singdrossel aufgefallen, vor zwei Tagen sah ich zum ersten Mal einen Eisvogel an einem Bach, wo es bisher noch nie welche gab. Die Büsche, an denen ich seit Jahren täglich vorbeilaufe, erklären mir jetzt, dass sie nicht einfach nur grüne Blätter am Wegesrand sind, sondern Ahorn, Buche, Kastanie, Esche, Ulme oder Eibe heißen, und dass es einige gibt, deren Namen ich noch nicht kenne. OMG - wie viele verschiedene Blattformen, Blüten und Pflanzen es gibt, mitten in der Stadt. Theoretisch gewusst hatte ich das immer schon, aber jetzt sehe ich das alles auf Schritt und Tritt. "Bewusstseinserweiterung" ist eine ganz banale Angelegenheit, für die Sie entgegen landläufiger Meinung keine Drogen brauchen. 😀 Diese erweiterte Wahrnehmung hört sofort wieder auf, wenn man auf die Uhr schaut, und sich vornimmt, pünktlich am Schreibtisch zu sitzen.
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