Was sehen Sie? Einen Vogelschiss auf einem Blatt? Na klar, das ist es auch. Aber sehen Sie auch das Pferd ohne
Ohren, das mit seinem breit gefächerten Schweif über das Blatt
galoppiert? Vielleicht ist es auch gar kein Pferd, sondern ein Fabelwesen,
halb Pferd, halb Kamel? Kinder hätten mit dieser Deutung am wenigsten
Probleme, bei Erwachsenen ist es schwieriger. Wir haben unsere
Erfahrungen und sehen die Dinge, wie sie sind - einen Vogelschiss eben.
Und dann kommt auch gleich noch die Bewertung hinterher: Igitt.
Hätten Sie das Motiv gesehen? Hätten Sie es fotografiert, oder lieber
einen großen Bogen drumherum gemacht? Man weiß ja nie, was man sich da
einfangen könnte? 😷
Kreativität entsteht,
wenn Sie Ihrer Phantasie freien Lauf lassen, und nicht bei der ersten
Interpretation stehenbleiben.
Das können wir nur zu gut: Unser Gehirn
ergänzt beim Wahrnehmen wenige typische Merkmale zu einem komplexen
Muster. Diese Fähigkeit bringt Ordnung in den zunächst chaotischen Strom
unserer Sinneswahrnehmungen. Diese Mustererkennung ist vor allem bei
der visuellen Wahrnehmung sehr gut erforscht: Wir identifizieren Objekte
in der Außenwelt, ordnen sie ein und geben ihnen einen Namen. Bei
Dingen, die wir (noch) nicht kennen, suchen wir automatisch nach
Ähnlichkeiten zu bereits bekannten Mustern. Anhand bestimmter Merkmale
wissen Sie sofort, dass es sich um einen Vogel oder um einen Hund handelt,
auch wenn Sie diese spezifische Art oder Rasse noch nie gesehen haben.
Wenn das gesichtete Exemplar besonders ungewöhnlich ist, werden Sie
entweder neugierig und wollen mehr darüber erfahren, oder Sie bekommen
es mit der Angst zu tun. Je mehr Sie bereits kennen, desto weniger
werden Sie von Ungewöhnlichem überrascht. Sie haben für (fast) alles
eine Schublade. Schauen Sie mal in diese mentalen Schubladen hinein und
sortieren Sie sie neu.
In unserer Phantasie können wir über die Grenzen des bereits Bekannten
hinausgehen. Wir können uns vorstellen, wie ein fliegender Löwe
aussieht, auch wenn es solche Fabeltiere nur in Mythen und Märchen gibt... oder in Venedig als Skulptur. Aber wie sieht eine Stehlampe aus, die
Beine und Arme hat, und sich bewegt wie eine Katze? Solche Dinge finden
Sie vielleicht in surrealistischen Gemälden oder bei modernen
Theaterinszenierungen. Phantasieren Sie ruhig einmal und stellen Sie
sich Dinge vor, die es gar nicht gibt. Vielleicht haben Sie Lust, so
etwas als Fotomontage zu erzeugen. Oder gehen Sie draußen auf die Suche nach
"unbekannten Mustern".
Der
"Vogelklatsch" weckt bei mir auch Assoziationen an den sogenannten
Rorschach-Test. In
der Psychologie gibt es diese (umstrittenen) Tafeln mit Tintenklecksen.
Die Probanden sollen dem
Testleiter sagen, was sie in diesen abstrakten Bildern erkennen. Es gibt
typische und atypische Antworten, aber ich halte es für ziemlich
fragwürdig, den geistigen Gesundheitszustand eines Menschen danach zu
beurteilen, was er in einem Tintenklecks erkennt. Wer hat nicht schon
mal in den Himmel geschaut und in den ziehenden Wolken Gesichter und
Figuren entdeckt? So funktioniert unsere Wahrnehmung. Wir haben es in
der Hand, was wir daraus machen. Blanker Realismus ist eine wunderbare
Grundlage für unser Alltagsleben, das sollten wir nicht aus den Augen
verlieren. Auf der kreativen Ebene bringt uns die Phantasie allerdings
deutlich weiter.
- Tier-Hybriden: Von Ebras, Zebreseln und Zorsen (Süddeutsche)
- Mustererkennung (Wikipedia)
- Rorschachtest (Wikipedia)
Deine Art Fotografie als Weltsicht zu betreiben inspiriert mich sehr. Ich danke dir für deine anregenden Blockbeiträge.
AntwortenLöschenWir sollten nicht vergessen, dass wir dieses "Schubladendenken" auch bei Menschen praktizieren, und dass es dort noch viel mehr Unheil anrichtet. Es beschränkt nicht nur unsere eigene Wahrnehmung, sondern auch unsere Begegnungen.
Lieber Michael,
Löschenvielen Dank! :-) Ja, das Schubladendenken ist allgegenwärtig - manchmal nützlich, oftmals nicht. Dazu gibt es auch ein schönes Zitat: ""Gegen das Schubladendenken wehrt sich nur,
wer in keine Schublade passt." (Dr. House)
Beim Fotografieren können wir schon mal damit anfangen es zu beobachten und ggf. zu verändern. :-)
https://betrachtenswert.blogspot.com/2017/04/schubladendenken.html