Freitag, 5. Juni 2020

Wer reitet so spät...?


Was sehen Sie? Einen Vogelschiss auf einem Blatt? Na klar, das ist es auch. Aber sehen Sie auch das Pferd ohne Ohren, das mit seinem breit gefächerten Schweif über das Blatt galoppiert? Vielleicht ist es auch gar kein Pferd, sondern ein Fabelwesen, halb Pferd, halb Kamel? Kinder hätten mit dieser Deutung am wenigsten Probleme, bei Erwachsenen ist es schwieriger. Wir haben unsere Erfahrungen und sehen die Dinge, wie sie sind - einen Vogelschiss eben. Und dann kommt auch gleich noch die Bewertung hinterher: Igitt. Hätten Sie das Motiv gesehen? Hätten Sie es fotografiert, oder lieber einen großen Bogen drumherum gemacht? Man weiß ja nie, was man sich da einfangen könnte? 😷

Kreativität entsteht, wenn Sie Ihrer Phantasie freien Lauf lassen, und nicht bei der ersten Interpretation stehenbleiben.
Das können wir nur zu gut: Unser Gehirn ergänzt beim Wahrnehmen wenige typische Merkmale zu einem komplexen Muster. Diese Fähigkeit bringt Ordnung in den zunächst chaotischen Strom unserer Sinneswahrnehmungen. Diese Mustererkennung ist vor allem bei der visuellen Wahrnehmung sehr gut erforscht: Wir identifizieren Objekte in der Außenwelt, ordnen sie ein und geben ihnen einen Namen. Bei Dingen, die wir (noch) nicht kennen, suchen wir automatisch nach Ähnlichkeiten zu bereits bekannten Mustern. Anhand bestimmter Merkmale wissen Sie sofort, dass es sich um einen Vogel oder um einen Hund handelt, auch wenn Sie diese spezifische Art oder Rasse noch nie gesehen haben. Wenn das gesichtete Exemplar besonders ungewöhnlich ist, werden Sie entweder neugierig und wollen mehr darüber erfahren, oder Sie bekommen es mit der Angst zu tun. Je mehr Sie bereits kennen, desto weniger werden Sie von Ungewöhnlichem überrascht. Sie haben für (fast) alles eine Schublade. Schauen Sie mal in diese mentalen Schubladen hinein und sortieren Sie sie neu.

In unserer Phantasie können wir über die Grenzen des bereits Bekannten hinausgehen. Wir können uns vorstellen, wie ein fliegender Löwe aussieht, auch wenn es solche Fabeltiere nur in Mythen und Märchen gibt... oder in Venedig als Skulptur. Aber wie sieht eine Stehlampe aus, die Beine und Arme hat, und sich bewegt wie eine Katze? Solche Dinge finden Sie vielleicht in surrealistischen Gemälden oder bei modernen Theaterinszenierungen. Phantasieren Sie ruhig einmal und stellen Sie sich Dinge vor, die es gar nicht gibt. Vielleicht haben Sie Lust, so etwas als Fotomontage zu erzeugen. Oder gehen Sie draußen auf die Suche nach "unbekannten Mustern".

Der "Vogelklatsch" weckt bei mir auch Assoziationen an den sogenannten Rorschach-Test. In der Psychologie gibt es diese (umstrittenen) Tafeln mit Tintenklecksen. Die Probanden sollen dem Testleiter sagen, was sie in diesen abstrakten Bildern erkennen. Es gibt typische und atypische Antworten, aber ich halte es für ziemlich fragwürdig, den geistigen Gesundheitszustand eines Menschen danach zu beurteilen, was er in einem Tintenklecks erkennt. Wer hat nicht schon mal in den Himmel geschaut und in den ziehenden Wolken Gesichter und Figuren entdeckt? So funktioniert unsere Wahrnehmung. Wir haben es in der Hand, was wir daraus machen. Blanker Realismus ist eine wunderbare Grundlage für unser Alltagsleben, das sollten wir nicht aus den Augen verlieren. Auf der kreativen Ebene bringt uns die Phantasie allerdings deutlich weiter.

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2 Kommentare:

  1. Deine Art Fotografie als Weltsicht zu betreiben inspiriert mich sehr. Ich danke dir für deine anregenden Blockbeiträge.
    Wir sollten nicht vergessen, dass wir dieses "Schubladendenken" auch bei Menschen praktizieren, und dass es dort noch viel mehr Unheil anrichtet. Es beschränkt nicht nur unsere eigene Wahrnehmung, sondern auch unsere Begegnungen.

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    1. Lieber Michael,
      vielen Dank! :-) Ja, das Schubladendenken ist allgegenwärtig - manchmal nützlich, oftmals nicht. Dazu gibt es auch ein schönes Zitat: ""Gegen das Schubladendenken wehrt sich nur,
      wer in keine Schublade passt." (Dr. House)
      Beim Fotografieren können wir schon mal damit anfangen es zu beobachten und ggf. zu verändern. :-)
      https://betrachtenswert.blogspot.com/2017/04/schubladendenken.html

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