Ich lebe
in einer Stadt, in der andere Leute Urlaub machen. Sehr viele
Motive sind schön, aber regelrecht "totfotografiert". Bei den letzten TV-Tipps hatte ich zwei Bilder gezeigt, mit denen ich die "Vergänglichkeit" in unserer unmittelbaren Umgebung dokumentieren wollte. Heute zeige ich Ihnen, wie es dort 2019 aussieht. Bei den Vorher-Nachher-Aufnahmen ist es mir nicht immer gelungen, exakt den gleichen Standort und die gleiche Perspektive einzunehmen, aber wenigstens beim ersten Motiv hat das so geklappt, wie ich es geplant hatte.
2012 ging die Drogeriekette Schlecker in die Insolvenz. Als sich dieses Ereignis ankündigte, machte ich noch schnell ein Foto... |
2019: Mein Mann und ich hatten uns einen Asia-Laden im Stadtviertel gewünscht. Diese "Bestellung beim Universum" hat geklappt. Die Ampel hatten wir nicht bestellt. 😉 |
Direkt gegenüber gab es eine ehemalige Tankstelle, die jahrelang als Autowerkstatt gedient hatte.
Im Foto von 2012 kann man schon sehen, dass dort kein Betrieb mehr herrschte. Ich hatte diese "Baulücke" auch vorher schon fotografiert, aber die Bilder sahen immer fürchterlich aus. Man konnte das Gebäude nie richtig sehen, weil ständig Autos davor standen, die die Sicht versperrten. Kurz vor dem Abriss war es dann endlich soweit. Im Hintergrund sehen Sie an der Hausfassade des Nachbargebäudes noch eine Reihe Fenster. Beim Schließen der Baulücke ("Nachverdichtung") wurden sie zugemauert.
1960er Jahre Charme - naja... Ein schöner Anblick war die Werkstatt nicht. In Zeiten der Wohnungsnot ist so etwas Platzverschwendung. |
Das Schließen einer kleinen Baulücke dauert in der Regel ein bis zwei Jahre. Wer nicht unmittelbar neben einer Baustelle wohnt, nimmt im Alltag höchstens Notiz von vorübergehenden Beeinträchtigungen der Mobilität: Ein nerviger Bauzaun versperrt den Gehweg, oder man steht in einer verengten Straße länger im Stau. Anders ist das bei Großprojekten. Hier klafft jahrelang eine riesengroße Lücke im Gelände, die nicht zu übersehen ist.
Stadtentwicklung live miterleben
Ein besonderes Langzeitprojekt war die Entwicklung des "Agfa-Areals". Den Abriss des altvertrauten Firmengeländes habe ich nur teilweise dokumentieren können, weil ich zu dieser Zeit vorübergehend in einem anderen Stadtviertel wohnte. Da ich aber nicht die einzige bin, die sich mit diesem Projekt beschäftigt hat, gibt es von dieser Phase genügend Material. Die Veränderungen sind besonders gut dokumentiert. Das liegt nicht zuletzt daran, dass es bei Agfa - wie sollte es anders sein! - einen firmeninternen Fotoclub gab (siehe weiterführende Links am Ende). Zwischen meinen folgenden beiden Aufnahmen liegen acht Jahre.
Stadtentwicklung live miterleben
Ein besonderes Langzeitprojekt war die Entwicklung des "Agfa-Areals". Den Abriss des altvertrauten Firmengeländes habe ich nur teilweise dokumentieren können, weil ich zu dieser Zeit vorübergehend in einem anderen Stadtviertel wohnte. Da ich aber nicht die einzige bin, die sich mit diesem Projekt beschäftigt hat, gibt es von dieser Phase genügend Material. Die Veränderungen sind besonders gut dokumentiert. Das liegt nicht zuletzt daran, dass es bei Agfa - wie sollte es anders sein! - einen firmeninternen Fotoclub gab (siehe weiterführende Links am Ende). Zwischen meinen folgenden beiden Aufnahmen liegen acht Jahre.
Juli 2011: Die 11 Hektar große "Barriere im Stadtteil Obergiesing" befindet sich in Auflösung. Nach dem Abriss hatte man vorübergehend einen freien Blick bis zur Heiligkreuzkirche. |
Danach rückten die Bagger und jede Menge Kräne an. Während die Bauarbeiten voranschritten, wurde mein Fotoprojekt von Monat zu Monat schwieriger und unübersichtlicher. Gute Perspektiven waren schon zu finden, manchmal auch interessante Details, aber ein richtiges "Vorher-Nachher" gibt es hier nur bedingt. Auch wenn der Erfolg dieser Stadtteilerneuerung gerne gefeiert wird: Nicht alle Giesinger waren damit glücklich. Die neuen Gebäude versprühen den typischen Charme von Neubauvierteln aus der Retorte. Das gleiche dürfte man über die älteren Bauten dahinter gesagt haben, als diese errichtet wurden. In zwanzig oder dreißig Jahren werden die Bilder aus 2019 wohl auch nostalgische Gefühle wecken. Ob man langfristig bei der Wandfarbe Anthrazit bleibt? Das war während der Planungsphase gerade in Mode, und ruft immer wieder (wenig talentierte) Graffiti-Sprüher auf den Plan. Ich gebe Bescheid, wenn sie die Fassade in einer anderen Farbe streichen. Bunt wäre doch angemessener, für das neue "bunte Viertel".
Juli 2019: Der Ella-Lingens-Platz erinnert an die unrühmliche Geschichte der Agfa-Werke während des Nationalsozialismus. |
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Mit dem Nachher-Foto habe ich lange gewartet. Inzwischen sieht der kahle Platz vor dem kahlen Gebäude im Sommer halbwegs freundlich aus. Dort finden gelegentlich Veranstaltungen statt. Besonders im Winter wirkt das Areal eher trostlos. In einigen Jahren wird man das Gebäude im Sommer von hier aus kaum noch sehen, weil es dann hinter dem Grünzeug verschwunden ist. Die Gartenterrasse des Motel One gegenüber sieht einladender aus. Bei schönem Wetter ist sie immer rappelvoll.
Das meinte ich vorhin mit "Unübersichtlichkeit". Es gab kaum noch Durchblicke, dafür ganz viel Zeugs, und "störende Elemente", die jede Woche oder einmal im Monat visuell sortiert werden mussten. Während des Projekts hätte ich ein paarmal fast die Lust verloren, weil die Dauerbaustelle anfing, mir auf die Nerven zu gehen. Erst als ich meine Fotoarchive neulich sortierte, fiel mir auf, dass ich noch keine Abschlussfotos gemacht hatte.
Hinter den Kränen sieht man noch die beiden Gebäude, die ursprünglich Werkswohnungen für Agfa-MitarbeiterInnen waren. In den 1990er Jahren dienten sie als Asylunterkünfte, danach als "Beherbergungsbetrieb", zum Beispiel für Saisonarbeiter. Besonders angenehm war es damals nicht, an den heruntergekommenen Häusern vorbeizulaufen. Nach dem Abriss sind auch Neubauwohnungen mit sozialer Förderung entstanden.
Mit dem Nachher-Foto habe ich lange gewartet. Inzwischen sieht der kahle Platz vor dem kahlen Gebäude im Sommer halbwegs freundlich aus. Dort finden gelegentlich Veranstaltungen statt. Besonders im Winter wirkt das Areal eher trostlos. In einigen Jahren wird man das Gebäude im Sommer von hier aus kaum noch sehen, weil es dann hinter dem Grünzeug verschwunden ist. Die Gartenterrasse des Motel One gegenüber sieht einladender aus. Bei schönem Wetter ist sie immer rappelvoll.
Baufortschritt 2013. Blick von Süden nach Norden. |
Das meinte ich vorhin mit "Unübersichtlichkeit". Es gab kaum noch Durchblicke, dafür ganz viel Zeugs, und "störende Elemente", die jede Woche oder einmal im Monat visuell sortiert werden mussten. Während des Projekts hätte ich ein paarmal fast die Lust verloren, weil die Dauerbaustelle anfing, mir auf die Nerven zu gehen. Erst als ich meine Fotoarchive neulich sortierte, fiel mir auf, dass ich noch keine Abschlussfotos gemacht hatte.
2012: Blick von Westen nach Osten. |
Hinter den Kränen sieht man noch die beiden Gebäude, die ursprünglich Werkswohnungen für Agfa-MitarbeiterInnen waren. In den 1990er Jahren dienten sie als Asylunterkünfte, danach als "Beherbergungsbetrieb", zum Beispiel für Saisonarbeiter. Besonders angenehm war es damals nicht, an den heruntergekommenen Häusern vorbeizulaufen. Nach dem Abriss sind auch Neubauwohnungen mit sozialer Förderung entstanden.
Ein Gebäude, das mich von Anfang an fasziniert hat, ist das "spitze Eck" beim neuen Rewe. Während der Bauphase hat vermutlich ein Lastwagen den unteren Teil der wagemutig hervorragenden Ecke gerammt. Die Reparaturstelle sieht man heute noch. Das schicke Anthrazit ist eine Einladung für Sprayer, die die schmucklosen Wände regelmäßig mit mehr oder weniger klugen Botschaften auflockern. Ihre Werke werden immer zeitnah übertüncht. Dieses Katz-und-Maus-Spiel dürfte den Lieferanten der grauen Farbe am meisten freuen.
Visuell durchaus reizvoll. Die Bürogebäude im Hintergrund waren schon früher fertig. Sie schirmen den Verkehrslärm des Mittleren Rings gut vom Wohnviertel ab. |
Schon im Baugerüst sah das extrem spitz zulaufende Gebäude interessant, aber auch irgendwie bedrohlich aus. Feng Shui geht anders, aber mei... des is halt modern. |
Architektonisches Highlight Ich denke, das Eck erfüllt alle Kriterien der "Instagramability". Wo einst der Agfa-Turm stand, ist jetzt das Motel One Campus. |
Gleich neben dem Rewe befindet sich das Sozialbürgerhaus mit Jobcenter. Anfangs wurden die Scheiben zweimal eingeschlagen - "Glasscherbenviertel". Jetzt hat der Sicherheitsdienst alles im Griff. |
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In Memoriam: Die letzten Mauern der Agfa-Werke Giesing (2011) |
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Nichts ist beständiger als der Wandel
Nichts ist beständiger als der Wandel
Agfa war der größte Arbeitgeber im Stadtviertel. In den besten Nachkriegsjahren arbeiteten auf dem 11 Hektar großen Gelände bis zu 8000 Menschen. 2005 meldete das Unternehmen Insolvenz an. Die Abrissarbeiten erfolgten zwischen 2008 und 2011. Den Auftakt machte die spektakuläre Sprengung des Agfa-Hochhauses. Der Neubau war Mitte 2015 abgeschlossen. Entstanden sind etwa 950 Wohnungen für rund 2000 Menschen, eine KiTa, Spielplätze und öffentliche Freiflächen. Nach offiziellen Angaben sind auch rund 1200 neue Arbeitsplätze entstanden. Durch die Neubebauung(en) ist Giesing in den letzten Jahren zu einem der bevölkerungsreichsten Stadtviertel Münchens geworden.
Derzeit erfährt das ehemalige Gelände der Firma Osram, ebenfalls in Giesing, einen ähnlichen Wandel: Living Isar direkt am Mittleren Ring soll in zwei Jahren fertig sein, und es kommen 420 Wohnungen für 850 Menschen und zwei KiTas dazu. Flankierend dazu entstehen auf dem ehemaligen Paulaner-Gelände am Nockherberg bis 2023 Wohnungen für weitere 3500 Menschen. Diese Baustelle liegt im seit Jahrzehnten heiß begehrten Stadtviertel Au, das unmittelbar ans "Glasscherbenviertel" Giesing angrenzt. Wie lange Giesing noch diesen Ruf haben wird, werden wir sehen. Living Isar ist im "Luxussegment" angesiedelt, und gerade eröffnet ein veganes Restaurant unweit von McDonalds. 😂
Wohl eher nicht... |
Meine Lust auf neue Baustellenprojekte ist momentan nicht so groß, aber
wenn ich sporadisch an einer der Großbaustellen vorbeikomme, mache ich ein paar Bilder. Gelernt
habe ich aus diesen ersten Langzeitprojekten, dass es nicht unbedingt darauf
ankommt, zu festen Zeiten oder besonders viel zu fotografieren. Es ist immer günstiger, auf gutes Licht
zu warten, und sich auf interessante Perspektiven zu konzentrieren. Wer gut vorbereitet sein will, kann die Bebauungspläne studieren, oder sich zumindest an den grafischen Visualisierungen orientieren, die man im Internet oder an den großen Bautafeln vor Ort findet.
Living Isar - Wohnen statt arbeiten ist das neue Motto. |
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So soll es dann in zwei Jahren bei Osram aussehen. Irgendwie sieht das
Areal auf dieser Grafik viel größer aus, als es mir vorkommt, wenn ich
davor stehe. Wir werden sehen, und ich werde fotografieren, was immer
mir vor die Linse kommt.
Weiterführende Links
- Der Agfa-Sportverein (Fotoclub) vor dem Aus (2009) - Hallo München
- Das Agfa-Areal und seine Entwicklung - Stadtteilladen Giesing
- Film "Zeitenwende in Giesing" mit Trailer - Stadtteilladen Giesing
- Themenseite Agfa-Park in Giesing - Wochenanzeiger
- Außenlager Agfa-Kamerawerke im 2. Weltkrieg - Wikipedia
- Osram-Gelände wird zum Wohnquartier - Abendzeitung
- Paulaner-Gelände: 1 Zimmer, 37 qm für eine knappe halbe Million (Süddeutsche)
- Motel One Campus - Homepage
- Im Parkviertel wohnen? Interessehalber Preise checken...
- Instagramability - Die Quadratur der Welt (Zeit Magazin)
Das ist spannend, auf diese Weise die Entwicklung einer Stadt (bzw. Teile einer Stadt) zu verfolgen. Toller Artikel. Vielen Dank!
AntwortenLöschenLiebe Grüße,
Werner
Lieber Werner,
Löschenherzlichen Dank, freut mich, dass er gefällt. Hat lange gedauert, aber hat sich gelohnt!
Viele Grüße,
Jacqueline
Ein wirklich schöner Bericht mit tollen Fotos die super den Wandel eines ganzen Ortsteil beschreibt. Es hat mir sehr gut gefallen insbesondere das dein Thema gut zu meinem Projekt das in Planung ist passt.
AntwortenLöschenLiebe Grüße von
Andrea