Vor gut einer Woche gab es die angekündigte Sendung Im Digitalen Bilderrausch als Radio-Podcast auf BR2. Hier können Sie sich den kompletten Beitrag von Susanne Schaffer anhören. Ich bin ein visuell veranlagter Mensch, darum fällt es mir immer sehr schwer, mir allein durch Zuhören die ganzen Informationen zu merken. Und davon gab es in dieser Sendung jede Menge. Mich hat am meisten die These interessiert, dass Fotografieren zu Erinnerungsdefiziten führen könnte. Was ist dran und wenn ja: Was kann man dagegen tun?
"Wir" sind eine Minderheit
Menschen, die immer noch oder jetzt wieder mit analogen Kameras und Film fotografieren, werden von den Forschern als "Exoten" bezeichnet. Das dürfte niemanden überraschen. Siebzig Prozent aller über 14jährigen fotografieren heute ausschließlich mit dem Smartphone. Sie und ich gehören also zu einer Minderheit, weil wir immer noch mit diese oft großen, manchmal sperrigen und vor allem schwierig zu bedienenden "Fotoapparate" benutzen. Das wiederum hat einen Einfluss darauf, wie gut wir uns an die Erlebnisse erinnern, die wir fotografiert haben.
Woran erinnern Sie sich?
Wenn Sie mit Ihrer Kamera kämpfen und nicht verstehen, wie das Ding funktioniert, haben Sie keinen Spaß. Sie wollen ein schönes Foto machen und werden dadurch von dem abgelenkt, was Sie gerade erleben. Vielleicht erinnern Sie sich später eher an den Kampf mit der Kamera als an das Ereignis selbst. Wenn Ihr Foto auch noch misslingt, und Sie darüber schrecklich unglücklich sind, entstehen negative Emotionen. An Negatives erinnern wir uns stärker als an Glücksmomente. So bedauerlich das sein mag, aber so ist unsere Psyche leider gebaut.
Werfen Sie Ihre Kamera trotzdem nicht in die Ecke: Die Wissenschaftler haben herausgefunden, dass solche negativen Ablenkungen auch bei Smartphones auftreten. Es hat also nichts damit zu tun, ob Sie eine komplizierte oder eine einfache Kamera verwenden.
Es kommt darauf an, ob Sie beim Fotografieren entspannt sind, und den Moment genießen können.
Bei erfahrenen Fotografen klappt das eher, weil die ganzen Handlungsabläufe mit der Kamera eintrainiert sind, und nicht so viel Aufmerksamkeit erfordern wie bei einem Anfänger. Damit Fotografieren zu einem positiven Erlebnis wird:
- Schalten Sie um auf Automatik, wenn Sie nicht weiter wissen.
- Üben Sie regelmäßig, auch und gerade mit Motiven, die nicht so super wichtig sind. Da ist es nicht so schlimm, wenn etwas nicht klappt.
Stressfaktor Publikum
Besonders interessant fand ich den
Versuch, bei dem Teilnehmer einer Weihnachtsfeier aufgefordert wurden,
entweder ein privates Album zu erstellen, oder aber ihre Fotos bei
Facebook zu veröffentlichen. Die Leute, die veröffentlichen sollten,
hatten weniger Spaß und erheblich mehr Stress. Es muss gar nicht
Facebook sein: Dieses Stresserlebnis wird jeder bestätigen können, der
schon einmal "Auftragsfotografie" gemacht hat. Seien Sie froh, dass Sie
kein Profi sind. 😉 Natürlich gewöhnt man sich an diese Aufregung und es
kann auch positiver Stress sein - vor allem wenn man hinterher für die
Bilder gelobt wird. Wie beim Umgang mit der Kamera reduziert sich der Erfolgsdruck mit wachsender Erfahrung und durch positive Rückmeldungen.
Likes und Feedback setzen oft einen Mechanismus in Gang, bei dem das Lob für die Bilder extrem wichtig wird. Fotografieren ist dann kein reiner Selbstzweck mehr, sondern ein Mittel, um Aufmerksamkeit oder Selbstbestätigung zu erhalten. Nicht ganz ungefährlich... Aber wenden wir uns wieder dem Gedächtnis zu.
Fotos verstärken Erinnerungen - gute und schlechte
Das klassische Fotoalbum, wie es viele aus analogen Zeiten kennen, gibt es im digitalen Zeitalter nicht mehr. Ja, es ist schön, die alten Chroniken durchzublättern, aber am Computer sind die Fotos schneller verfügbar. Das bestätigt auch der Radiobeitrag: Fotos sind "Alltagsgegenstände", mit denen wir jetzt täglich hantieren. Indem wir unsere Fotos immer wieder anschauen, verstärkt sich jedes Mal die Erinnerung an die fotografierten Momente. Im Gegenzug verblassen Erinnerungen, die wir nicht fotografiert haben. Hier lauert eine Gefahr für unser Gedächtnis, denn wir können (und wollen) nicht ALLES fotografisch festhalten.
Beim Betrachten von Fotos wird nicht nur das visuelle Gedächtnis aktiv, es entstehen auch Assoziationen - wir erinnern uns an das Wo, Wie, Was, Warum und mit wem wir unterwegs ware - Dinge, die im Foto oft gar nicht zu sehen sind. Die Forscher zeigen sich ein wenig überrascht darüber, dass Alltagsmotive und leere Räume ohne Menschen offenbar auch interessant für Fotografen sind. Warum? Der Beitrag gibt darauf eine vage Antwort:
Fotos zeigen Dinge, die für uns von Bedeutung sind.
Das ist für jeden etwas anderes, und ich meine: das ist gut so. Das macht die Fotografie abwechslungsreich und individuell. Es kann uns auch dazu motivieren, uns zu überlegen, warum wir Szene A fotografieren, und Szene B keines Blickes würdigen. So erfahren wir mehr über uns selbst.
Mit allen Sinnen erleben
Nicht besonders überraschend ist auch, dass die aktive Teilnahme an einem Erlebnis uns viel tiefere Erinnerungen beschert als das reine Fotografieren. Als Beispiel wird eine Szene in Vietnam erwähnt, bei der die Probanden einen Strohhut selbst anfertigen konnten, oder diesen Vorgang nur fotografierten. Je mehr Sinne (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten) bei einem Erlebnis aktiviert werden, desto stärker ist die Erinnerung. Also lieber mitmachen als knipsen?
Wenn Sie mitmachen, wird ein Foto von "was-auch-immer" ausreichen, um die Erfahrung später wieder lebendig werden zu lassen.
Wenn Sie mitmachen, wird ein Foto von "was-auch-immer" ausreichen, um die Erfahrung später wieder lebendig werden zu lassen.
Fotos als temporärer Zwischenspeicher
Ich amüsiere mich manchmal über Bilder, auf denen die Telefonnummer eines Handwerkers zu sehen ist. Ja klar. Früher hat man sich so etwas auf einen Zettel notiert, jetzt ist es eben eine digitale Fotonotiz. Dass man solche Bilder und Momente vergisst, tut niemandem weh. Aber gerade jetzt ist mir eingefallen, dass ich die Nummer meiner Frisörin irgendwo im Bildarchiv habe! Sonst gehe ich einfach in den Laden und schaue, ob sie Zeit hat - aber Corona... Sehen Sie, und schon ist die Erinnerung wieder da, dass ich mir eine Fotonotiz gemacht hatte.
Fotos sofort ins Netz stellen?
Bevor ich Bilder teile, durchlaufen sie einen Workflow, bei dem ich sie auf Qualität prüfe und bearbeite. Allein dadurch prägen sich diese Motive in mein Gedächtnis ein. Wenn dieser Schritt fehlt oder durch Smartphone-Apps sehr schnell erledigt werden kann, ist die Erinnerung schwach. Deshalb würde ich Ihnen auch eine gewisse "Entschleunigung" empfehlen. Wenn Sie außerdem ein Bildverwaltungsprogramm verwenden und Ihre Motive verschlagworten, müssen Sie sich beim Schreiben der Stichwörter erst einmal Gedanken über Ihr Motiv machen.
Ist Fotografieren nun gut oder schlecht?
- Nach Aussagen der WissenschaftlerInnnen hatten die meisten Fotografierenden ein positiveres Erlebnis, wenn sie (entspannt) fotografiert haben.
- Das Einfangen positiver Momente kann das Erleben verstärken, vor allem aber die Erinnerung daran.
- Negative Erlebnisse und Szenen werden ebenfalls verstärkt, darum sollte man sie nicht oder nicht so oft fotografieren. Kriegsreporter sind ganz besondere Menschen, ich möchte nicht in ihrer Haut stecken, aber es ist wichtig, dass es sie gibt.
- Wenn man 100x das gleiche fotografiert, verwässert das die Erinnerung. Besser ist es, sich auf besondere Momente zu konzentrieren und davon besondere Fotos zu machen.
Der Hippocampus in unserem Gehirn hat ein enormes Speichervolumen. Was und wie gut wir uns erinnern, hängt davon ab, wie wir mit unseren Bildern umgehen. Darum empfehle ich gerne den "Blick ins Archiv" und die gezielte Suche nach Motiven, die dort schon lange ungesehen vor sich hinschlummern. Vielleicht ist etwas dabei, das Sie vergessen hatten, heute mit neuen Augen sehen, oder endgültig löschen wollen.
So wie sich die Menschen verändern, verändert sich natürlich auch das Medium der Fotografie. Bliebe die Frage nach dem künstlerischen Aspekt.
AntwortenLöschenWenn ich mit dem Smartphone ein Bild von meinem Parkplatz im Parkhaus als Gedächtnisstütze mache, so hat dieses Foto einen einfachen Nutzwert.Es erhebt keinen Anspruch auf einen Ausdruck.
Das ist einerseits gut, da ich diese Information nicht mehr im Gedächtnis behalten muß. Aber es hat auch einen negativen Effekt, da ich mir abgewöhne, mich an etwas erinnern zu müssen.
Aber nicht umsonst haben die Älteren unter uns mal das kleine und große Einmaleins auswendig gelernt, um es im geeigneten Moment hervorzuzaubern. Wenn ich nämlich weiß, wieviel die Semmel beim Bäcker kostet kann ich schnell überschlagen, ob ich noch genug Geld in der Hosentasche für acht Stück habe. Dafür benötigt heute vielleicht der Eine oder Andere schon den Taschenrechner auf dem Smartphone.
Aber mit dem Bilderrausch ändert sich auch die Aufmerksamkeit gegenüber der optischen Wahrnehmung. Wenn ich selbst im optischen Mittelpunkt eines Fotos stehe, so werde ich mich vielleicht besser an die Situation der entstandenen Aufnahme erinnern können. Soll ich ein Gemälde im Museum für wenige Minuten betrachten, um mich nachher an Einzelheiten auf dem Bild erinnern zu können, so empfinde ich das Fotografieren doch eher als störend. Das ist so wie in der Schule, wo der Schüler beim Diktat sofort anfängt zu schreiben, der Lehrer aber dazu auffordert, zunächst einmal die Stifte und das Heft beiseite zu legen, um einfach nur einmal den Text als Ganzes anzuhören. Wer also in dieser Art fotografiert, verliert möglicherweise den Zusammenhang des Gemäldes.
Und es verändert sich auch der Zeitaspekt eines Fotos. Keinem Foto kann man ansehen, wie oft der Fotograf vielleicht schon vergeblich versucht hat, einen bestimmten Lichteinfall als Eindruck festzuhalten. Es gehört auch viel Geduld dazu, den entscheidenden Moment zu erwischen.
Fotografie an sich ist weder gut noch schlecht. Es kommt halt drauf an, für welchen Zweck ich sie einsetze. Dann hat sie entweder einen Nutzeffekt, oder dient der Dokumentation, oder aber sie versucht mit den Mitteln der Fotografie ein Kunstwerk zu schaffen.